© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/02 25. Oktober 2002

 
"Absurd und verlogen"
Parteien: Auf dem Bundesparteitag der Grünen erhitzten sich über die Trennung von Amt und Mandat die Gemüter
Thorsten Thaler

Trotz der Entscheidung des Grünen-Parteitages, die Trennung von Amt und Mandat beizubehalten, wollen die Bundesvorsitzenden Fritz Kuhn und Claudia Roth ihr Amt bis zur Neuwahl des Bundesvorstands am 7./8. Dezember in Dortmund weiterführen. Gleichzeitig bekräftigten beide, daß sie ihr Bundestagsmandat behalten werden.

Am vergangenen Samstag hatte eine Delegiertenversammlung der Grünen in Bremen entschieden, daß Mitglieder des Bundesvorstands auch weiterhin kein Abgeordnetenmandat haben dürfen. Eine Satzungsänderung, mit der diese Bestimmung gelockert werden sollte, scheiterte mit 20 Stimmen an der erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit. Nach einer knapp vierstündigen Debatte votierten 447 Delegierte für eine Änderung, 243 stimmten dagegen, 10 enthielten sich. Unverändert heißt es in Paragraph 14 der Parteisatzung also weiterhin: "Mitglieder des Bundesvorstands dürfen nicht Mitglieder des Bundestags oder der Bundesregierung, eines Landtags oder einer Landesregierung, des Europaparlaments oder einer europäischen Kommission sein."

Ihre schwere Niederlage hat die Führungsriege der Partei vor allem dem Alt-Linken Hans-Christian Ströbele zu verdanken, der zuammen mit dem nordrhein-westfälischen Landesvorstandssprecher, Frithof Schmidt, die Gegner einer Neuregelung des traditionellen Mandatsverbots für Grünen-Funktionäre organsierte. Auf dem Parteitag erklärte Ströbele, der Bundesvorstand solle nicht alle paar Jahre an der Tür des Bundestages rütteln und sagen: "Wir wollen hier rein." Er befürchte, daß die Bundesvorsitzenden als Abgeordnete zu stark in die Regierungsdisziplin eingebunden werden und nicht mehr unabhängig agieren könnten.

Ströbele warnte vor Ämterhäufung, Machtfülle und dem Verlust der politischen Unabhängigkeit der Parteichefs. "Wir haben mit der sauberen Trennung von Amt und Mandat in den letzten 20 Jahren erfolgreich Politik gemacht", sagte der 63jährige Bundestagsabgeordnete aus Berlin, der am 22. September als bundesweit erster Grünen-Politiker ein Direktmandat gewann (JF 40/02). Die Partei müsse "der Machtballung, die auch zu Skandalen führt, wie wir bei anderen Parteien gesehen haben, frühzeitig und konsequent entgegenhalten". Gerade der Wahlkampf der Grünen habe gezeigt, daß Parteichefs ohne Parlamentsmandat besonders erfolgreich sein könnten, argumentierte Ströbele. Zudem wies er auf die Gefahr einer Spaltung der Fraktion hin, sollten Vertreter der Parteispitze im Bundestag sitzen. Schon jetzt stünden zehn der 55 Parlamentarier nicht für die Ausschußarbeit zur Verfügung, weil sie Minister oder Staatssekretäre seien.

Die bisherige Fraktionschefin im Bundestag, Kerstin Müller, die Staatsministerin im Auswärtigen Amt werden soll, griff Ströbele scharf an. In einer agressiven Rede nannte sie Ströbeles Argumentation "absurd und verlogen". Den Delegierten rief sie zu: "Wir stellen uns mal wieder selbst ein Bein."

Die Grünen-Spitze schiebt die Lösung der Führungskrise den Parteigliederungen auf Landes- und Kreisebene zu. "Es ist jetzt Aufgabe der Partei, gute Kandidaten zu suchen oder andere Bedingungen zu schaffen", erklärte Fritz Kuhn. "Von unserer Seite wollen wir der Diskussion nicht vorgreifen." Claudia Roth sagte, in mehreren Landes- und Kreisverbänden seien Sondersitzungen geplant.

Inzwischen ist bei den Grünen eine kontroverse Debatte über die Folgen des Parteitagsbeschlusses entbrannt. Die Grünen-Spitze in Rheinland-Pfalz schlug am Dienstag vor, den Parteivorsitzenden mehr Geld zu zahlen und sie so zur Aufgabe ihrer Bundestagsmandate zu bewegen. Der stellvertretende Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, Michael Vesper (Grüne), brachte eine Urabstimmung aller Grünen-Mitglieder ins Gespräch. Er sah in einem Interview im Deutschlandradio gute Chancen, die Trennung von Amt und Mandat auf diese Weise zu lockern. Der parlamentarische Geschäftsführer der Grünen im Bundestag, Volker Beck, sagte dem Inforadio, er gehe ebenfalls davon aus, daß die Parteimitglieder bei einer Urabstimmung mehrheitlich für eine Satzungsänderung votieren würden. Der Forderung nach einer bundesweiten Urabstimmung schloß sich der Landesvorstand in Schleswig-Holstein am Dienstag an. Dagegen bezweifelte der rheinland-pfälzische Vorstandsprecher Manfred Seibel, daß bis zum Dezember die Zeit für eine Urabstimmung ausreiche. Die Berliner Grünen-Chefin Regina Michalik schlug als Kompromiß vor, die Lockerung zunächst für zwei Jahre zu erlauben. Die saarländischen Grünen kündigten an, das Dauerthema im Dezember wieder auf die Tagesordnung zu bringen, um Roth und Kuhn weiter an der Spitze der Grünen zu sehen. Antragsschluß für die Delegiertenversammlung ist der kommende Sonntag. Auch Thüringens Grünen-Vorsitzende Astrid Rothe sagte, sie "werbe nach wie vor für die beiden".

Die Bundestagsabgeordnete Christine Scheel aus Bayern und der Grünen-Landeschef in Brandenburg, Roland Vogt, plädierten für einen Sonderweg. Dem Parteitag im Dezember könne eine Ausnahme-Klausel vorgelegt werden, um Kuhn und Roth mit einer Zwei- Drittel-Mehrheit Parteiamt und Bundestagsmandat zu lassen.

Der baden-württembergsiche Grünen-Chef, Andreas Braun, bezeichnete die Entscheidung der Delegierten als "politisch verheerend". Der sächsische Landesvorstand kritisierte das Bremer Votum als "Bärendienst" für die Partei.


 
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