© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/02 25. Oktober 2002

 
Eine Welt der Zeichen
Anarchischer Anspruch: Der Schriftsteller Wolfgang Hilbig erhält am Samstag den Büchner-Preis
Doris Neujahr

Manchmal schlägt die Ironie der Geschichte sogar Purzelbäume. Dann kommt Hoffnung auf, daß die Zukunft mehr bereithält als bleiernde Vorhersehbarkeit. Die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an den Schriftsteller Wolfgang Hilbig ist so ein Moment. Die Erfinder des "Bitterfelder Weges" hätten sich niemals träumen lassen, daß eines Tages ausgerechnet die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung einem schreibenden Arbeiter aus dem mitteldeutschen Industriegebiet ihren Preis verleihen würde, weil dieser ein kulturpolitisches Projekt aus der Ideologie-Abteilung der SED beim Wort genommen hat. Auch der Akademie dürfte dafür lange Zeit die Phantasie gefehlt haben. Doch das Leben (und die Literatur) agieren viel freier, als ihre Manipulatoren das annehmen.

Der Ende der 1950er Jahre kreierte "Bitterfelder Weg" wies den DDR-Schriftstellern den Weg in die industrielle Produktion. Anschließend sollten sie den proletarischen Alltag in hellen Farben schildern. Umgekehrt sollten die Arbeiter die Höhen der Kultur erstürmen - "Greif zur Feder, Kumpel", lautete eine populäre Losung. Man konnte darin eine Restspur der marxistischen Utopie vom nichtentfremdeten Leben erblicken, doch der SED ging es natürlich darum, die Schriftsteller zu kontrollieren und zu steuern und die Arbeiter zu indoktrinieren. Der "Bitterfelder Weg" wurde schnell beendet. Erstens verweigerten viele Autoren sich dem Themendiktat. Der zweite Grund wird im Werk von Wolfgang Hilbig anschaulich.

Franz Fühmann hat Hilbigs Biographie knapp und treffend umrissen: "Der Mann ist Jahrgang 41, geboren in der Kohle in Sachsen, in Meuselwitz, einer krummen Stadt aus Dampfrohren, Ruß und gekappten Linden. Ringsum Abraumhalden, Gehölz und Wind. Der Vater bei Stalingrad gefallen, das Kind unter Kumpeln aufgewachsen, in der Familie seines Großvaters, der aus der Kohle in Schlesien gekommen war."

Hilbig verfaßte Gedichte und Prosa über die Tristesse der Arbeitswelt, über kaputte Industrieanlagen, vergiftete Landschaften, über versiffte Wohnungen und Städte, die vom ätzenden Rauch minderwertiger Heizkohle erfüllt waren, über gezeichnete Menschen: Eine alptraumhafte, assoziativ und sinnlich aufgeladene Szenerie, die eine vernichtende Kritik an der DDR und der industriellen Zivilisation transportierte.

Die Literaturwissenschaft verweist oft und zu Recht auf Kafka als wichtigen Bezugspunkt Hilbigs. Er hat noch andere: "wie lange noch wird unsere abwesenheit geduldet / keiner bemerkt wie schwarz wir angefüllt sind / wie wir in uns selbst verkrochen sind / in unsere Schwärze". Die Verse verraten die intensive Rezeption des Expressionismus, aber der Autor spielt auch mit Versatzstücken der proletarisch-revolutionären Literatur der zwanziger Jahre, die bei aller Inferiorität authentische Erfahrungen aus der Arbeits- und Lebenswelt der Proletarier festhielt. Hilbig schloß sie mit der DDR-Gegenwart kurz und arbeitete, indem er sie in moderne literarische Formen umgoß, ihre fortwirkende Allgemeingültigkeit heraus. So entzog er der SED, die behauptete, die den historischen Texten eingeschriebene Befreiungshoffnung eingelöst zu haben, ihre Legitimation. Zugleich grenzte er sich ab vom gönnerhaften Revoluzzertum eines Wolf Biermann, der immer noch das revolutionäre Potential der "Arbeiterklasse" besang. Man könnte sagen: Hätten die Herbstrevolutionäre von 1989 nur die Hilbig-Texte genauer gelesen, sie hätten die Verhaltensweisen der DDR-Arbeiter beizeiten realistischer eingeschätzt.

Hilbigs Gedichte eröffnen einen Blick in den Abgrund, der zwischen der hohlen Rhetorik der Staatspartei und der Wirklichkeit eines verfallenden Landes klaffte: "die revolution ist vorüber die kalender / zeigen den vergangenen Monat an / auf den tischen stehen gläser in der tabakasche / auf den dielen bierpfützen zündhölzer scherben / schmutzige Schuhe auf dem rücken / die leute in den betten / schlafen".

Sein erster Gedichtband "abwesenheit" konnte 1978 nur in Frankfurt am Main erscheinen, er brachte ihm mehrwöchige Haft und eine Verurteilung wegen "Devisenvergehens" ein. Die moralische Rehabilitierung folgte auf dem Fuß durch Franz Fühmanns spektakulären Essay "Dialektik der Abwesenheit". Fühmann stellte den schwierigen Weg eines Mannes dar, der, eingesperrt in einem harten Arbeitsalltag, in den Werkpausen neben dem Heizkessel die mitgebrachte Weltliteratur verschlingt, dem es durch Eigenwillen und Talent gelingt, sich über die unwürdigen Zustände, in die er gestellt ist, zu erheben. 1965 formulierte Hilbig sein strikt individualistisches Programm: "ihr habt mir geld aufgespart / lieber stehle ich // ihr habt mir einen weg gebahnt / ich schlag / durchs gestrüpp / seitlich des wegs ..."

1985 ging Hilbig in den Westen, vier Jahre später gewann er den Ingeborg-Bachmann-Preis. Sein 1993 veröffentlichter Roman "Ich" wurde zu einem literarischen Ereignis. Mit der Geschichte des IM "Cambert", eines Arbeiters und Schriftstellers, hat Hilbig das Kunststück fertigbekommen, das Dämonische der Staatssicherheit begreifbar zu machen und sie gleichzeitig zu entdämonisieren. Die Stasi ist hier ein in der Logik der modernen Zivilisation stehendes Funktionsmuster. Die Sehnsucht des Ich-Erzählers, der realen Welt eine andere, dichterische Welt, eine Welt der Zeichen, entgegenzusetzen, macht ihn für die Stasi interessant, weil sie an einem ganz ähnlichem Vorhaben arbeitet. Ihr geht es darum, die wirkliche, immer wieder zu spontanen Ausbrüchen neigende und deshalb schwer beherrschbare Welt durch eine in sich stimmige, virtuelle Realität zu ersetzen. Die totale Kontrolle ist keinem hehren politischen Ziel untergeordnet (von der Sozialismus-Utopie ist keine Rede mehr), sondern das Mittel, um ein gigantisches, abgeschlossenes Simulacrum zu errichten, das seine politisch-literarische Opposition gleich mit einschließt. "Die Wirklichkeit dieses Apparates ist der Versuch, einen Staat von Mitarbeitern zu schaffen." Diese ebenso gespenstische wie rational-übersichtliche Welt verspricht eine umfassende Geborgenheit, weshalb die Stasi sich als "der Dienst für alle" versteht. Die Sehnsucht, Teil zu haben an der verheißenen Sicherheit, ist tief in den Menschen verankert.

Wer könnte glauben, daß Hilbig nur die DDR-Wirklichkeit benennt? Sein jüngster Roman "Das Provisorium" aus dem Jahr 2000 beschreibt das wiedervereinigte Deutschland als eine besinnungslose Welt, in der die Menschen in Bilderfluten ertrinken und der Schriftsteller als "Produzent für die Ramschkiste" gefragt ist.

Nur wenige Georg-Büchner-Preisträger entsprechen mit ihrer Literatur, den öffentlichen Reden und der gelebten Haltung dem anarchischen Anspruch des Namensgebers so unmittelbar wie Wolfgang Hilbig.


 
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