© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/02 25. Oktober 2002


Ein deutscher Revolutionär
von Bernd Rabehl

Die beiden Deutschlands waren von ihren jeweiligen "Schutzmächten" besetzt und den "Lagern" des Westens oder Ostens zugeteilt worden. Die Herrschaftsstruktur der DDR entsprach in ihren Kernelementen von Kommandostab, Politbüro, Kaderpartei, Massenorganisationen und Repressionsapparat, Verstaatlichung der Wirtschaft und Planstaat als "Nomenklatursystem" der Diktatur der UdSSR. Alle spezifischen "Errungenschaften" der deutschen Arbeiterbewegung in Gestalt von Betriebsräten, Mitbestimmung, Wirtschaftsdemokratie, Rechtsstaat, Kommunaldemokratie waren genauso liquidiert worden wie die liberalen oder konservativen Traditionen von Staat und Demokratie. Der Machtaufbau der Bundesrepublik war nur indirekt Abbild der Machtverhältnisse der USA, Frankreichs oder Großbritanniens. Sie war teils der Qualifikation der Nachkriegseliten nachempfunden und trug teils direkt antidemokratische Züge. In den Nürnberger Prozessen von 1946 gegen die Führungseliten der NS-Diktatur, soweit sie nicht getötet waren oder Selbstmord begangen hatten, wurde ein Teil der obersten Befehlsgeber von Staat, NSDAP, Wehrmacht und SS verurteilt. Diese Anklage wegen Kriegsverbrechen und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" verbarg die Umgruppierung und langfristig angelegte Indienstnahme der unteren Stockwerke von Machtträgern der Diktatur im neuen Staat. Auf die nachfolgenden Hierarchien der NS-Diktatur in Wirtschaft und Staat sollte nicht verzichtet werden, schon um so etwas wie die "Kontinuität" von Staatlichkeit und Herrschaft zu bewahren und um diese Eliten aus der "zweiten Reihe" zu befähigen, sich den neuen Wirtschafts- und Machtverhältnissen im Westen anzupassen. Die Reduktion auf die "Parteiendemokratie", die 1949 im Grundgesetz beschlossen wurde, war dieser Absicht genauso geschuldet, wie das Mißtrauen gegen die unmittelbare Demokratie. Den "Deutschen" wurde generell unterstellt, immer noch in der NS-Ideologie befangen zu sein, weshalb man die Parteien als "Erziehungsanstalten" des deutschen Volkes ansah. Das Volk sollte wählen dürfen, es sollte jedoch keinerlei Mitentscheidung treffen oder gar Verantwortung haben für den Zustand der Demokratie. Durch derartige Überlegungen wurden auch im Westen die demokratischen Traditionen der deutschen Revolutionen von 1848 und 1918 liquidiert. Die "Parteiendemokratie" widersprach allen Verfassungsentwürfen des Widerstands von 1944, die den Zusammenbruch der Demokratie 1933 vor allem infolge des Versagens der Parteien ausgemacht hatten.

In bezug auf die Rolle der "Parteien" in der Demokratie kamen primär die alliierten Interessen und ihr Politikverständnis zum Tragen. Die Parteien sollten wie in den USA eine Art "Parteimaschine" bilden, die mehrere Stockwerke besaß, unterschiedliche Parteien in der Partei bildete und über Privilegien und Karrieren zusammengehalten werden mußte. Auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene formierten sich unterschiedliche Eliten, die für ihren Bereich die Politik managten und weitgehend abgenabelt waren von der Parteibasis und den Wählern.

Um diese Differenzen immer wieder zu überdecken, wurde Politik als Werbefeldzug in Szene gesetzt. Dadurch entstand so etwas wie die "Legitimität" von Parteipolitik, die immer wieder hergestellt werden mußte. Über die herrschenden Parteien wurde die "politische Klasse" organisiert und eingestimmt auf die Fragen der Zeit. Parteien waren Firmen und Werbeträger des Markenzeichen "Politik". Sie bildeten die Fraktionen, Cliquen, Klüngel und "Gefolgschaften", die über einzelne Politiker die unterschiedlichen Ebenen von Staat in Besitz nahmen, verwalteten und "ausschöpften". Über die Parteien wurden auch die Interessen der Großbanken, der Rüstungsindustrie und der Großwirtschaft gesichert und umgesetzt. Schon deshalb waren die Parteien immer anfällig für das "politische Geschäft" und für alle Spielartenvon "Korruption". Deshalb wurden sie als "Volksparteien", "Parteien der Mitte", organisiert, um die Sonderinteressen als Volksinteressen verkaufen zu können. Parteien waren die Übersetzer dieser Sonderinteressen, solange sie den Zuspruch der Wähler besaßen. Diesen hatten sie solange, wie Regierung, Staat und Parteien einen Massenwohlstand garantieren konnten. Erst in der Situation von Massenarbeitslosigkeit und sozialer Armut würde sichtbar werden, daß diese parlamentarische Demokratie immer auch so etwas darstellte wie eine subtile Diktatur, denn in der Situation der Ausnahme würde die Herrschaft diktatorische Züge annehmen.

Diese Demokratie war auf die "Normalität" des gesellschaftlichen Lebens angewiesen. Aber Parteien und Regierung bereiteten sich stets auf die "Ausnahme" vor, auf die ihre "Funktion" als Massen- und Elitepartei angelegt war. Derartige Parteien waren durch Wahlgesetze, Prozentklauseln, Finanzierung, Staatswerbung, Grundgesetz, Politikinszenierung gegen potentielle Oppositionsparteien im Vorteil. Sie waren als Staatsparteien Interessenparteien und sicherten in dieser Aufmachung die Spezial- und Sonderinteressen außerparlamentarischer Gruppen ab. Die Parteien waren durch diese "Funktion" doppelt angelegt: sie waren Staatsparteien und als solche Interessenträger von Herrschaftseliten, zugleich waren sie Wahlparteien und als solche Werbeträger demokratischer Ziele. Sie bildeten jeweils die Kehrseiten von Diktatur und Demokratie und hatten diese doppelte Funktionalität im nordamerikanischen Parteiensystem erfolgreich erprobt. Die Aussparung aller anderen Demokratieformen und die Konzentration auf die Parteiendemokratie hatten sicherlich ihre Ursache darin, daß die alliierten Offiziere und die Grundgesetzverfasser diese Gestalt von Halbdemokratie favorisierten, um die Kontrolle nicht zu verlieren. Übertrug also die UdSSR direkt den Kern ihrer Macht- und Herrschaft auf die DDR, so wurde die Bundesrepublik über die Parteien langfristig "amerikanisiert", indem die Eliten diese Form von"demokratischer Diktatur" umsetzten und vom Wahlvolk akzeptieren ließen.

(...) Das Experiment der Demokratisierung der Bundesrepublik schien Mitte der sechziger Jahre gescheitert zu sein. Die junge, primär akademische Generation stellte sich darauf ein, für eine Demokratisierung Deutschlands über die unterschiedlichen Räteformen einzutreten. Dutschke wurde zu ihrem Wortführer.

Grundpfeiler und Vorbedingung der Revolte war diese Kritik an der "Parteiendemokratie" und ein erstes Verständnis davon, daß der "Westen" genauso fremdbestimmt wurde wie der "Osten". Parallel und in zweiter Linie wurde die Kritik am amerikanischen Imperialismus und die Kritik an der "Kulturindustrie" aufgenommen. In diesem Zusammenhang fanden die großen Demonstrationen gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam, gegen die Notstandsgesetze, gegen die Marionetten des US-Imperialismus Tschombé und den Schah von Persien statt. In dieser Zeitspanne erfolgte auch die "Kommunediskussion", der Eintritt einzelner Subversiver um Dutschke in den SDS, und es wurde zugleich die "Organisationsfrage" einer neuen Opposition aufgeworfen. In den Biographien über Dutschke wurden bisher einzelne Aspekte aufgegriffen oder die Diskussionen chronologisch nacherzählt, aber es fehlte immer die Wiedergabe einer subversiven "Revolutionstheorie", die von den Bausteinen der Provokation und Entlarvung, der theoretischen Rückgriffe auf die deutsche und internationale Revolutionsgeschichte und der praktischen Inszenierung einer "Gegenrepublik" lebte. Alles geschah gleichzeitig, wurde offen ausgesprochen, oft nur angedacht und inspirativ vorgestellt. Trotzdem entstand ein mosaikartiges Bild einer Revolution, das bei Dutschke in seiner Gesamtheit auffindbar ist, während die anderen theoretischen Köpfe oft nur Teilaspekte oder Bruchstücke vertraten. Die Einsicht der subversiven Linken bestand darin, daß die Bundesrepublik eine demokratisch verbrämte "Diktatur" darstellte, eine Art Vasall der nordamerikanischen Großmacht war und diese neoimperialistische Ziele in Asien, Afrika und Lateinamerika, aber auch in Europa verfolgte. Diese Einsicht ließ sich nicht über die klassischen Imperialismustheorien entschlüsseln, denn die USA waren in Europa zugleich Garantiemacht der westlichen Demokratie gegen die UdSSR. Diese selbst stellte keine sozialistische Gesellschaft dar, sondern stand eher in der Tradition des russischen Despotismus, trug jedoch zugleich die Potentialität, zu sozialistischen Demokratieformen zurückzukehren. Nur an diesem Punkt bestanden Übereinkünfte zwischen der subversiven und der traditionellen Linken. Gegen den vorherrschenden Proamerikanismus wurde die nüchterne Analyse der Militärinterventionen dieser Großmacht und die Kollaboration mit den reaktionären Kräften dieser Länder gestellt. Diese Nachweise waren klassische Aufklärung und als solche wirkungslos. Die Darstellung von Massakern, Bombardements, von Rechtsbruch und Intervention interessierte nur die Eingeweihten, die Aufklärer, die sich selbst immer wieder aufklärten. Erst in dem Augenblick der provokativen Demonstrationen wurde eine universitäre Öffentlichkeit auf das Anliegen der linken Studenten aufmerksam. Provokation und die Aufklärung in der Aktion wurden die Mittel, junge Generationen anzusprechen.

Die imperialistischen Machtordnungen in der Welt wurden innerhalb des SDS über die Befreiungskriege in Algerien oder Vietnam erschlossen. Es gab also keinen primär theoretischen Zugang, der etwa über Hilferding, Luxemburg, Lenin, Bucharin, Sternberg oder Grossmann die wirtschaftliche Entwicklung des modernen Kapitalismus in einen Zusammenhang stellte mit Staat, Diktatur, Kolonialismus und Krieg. Die Daten von Ereignissen, Interventionen, Bombardements, Kriegsverbrechen Frankreichs oder der USA oder die Gegenschläge der unterschiedlichen Partisanen und Befreiungsarmeen wurden dargestellt. Gegen die offizielle Kriegspropaganda, die diese Kriege als Widerstand gegen den internationalen Kommunismus vorstellte, sollte eine Gegenöffentlichkeit geschaffen werden, die über die Ursachen und Hintergründe dieses Kriegsgeschehens aufklärte.

Dutschke setzte andere Akzente. Der Wohlstand in Westeuropa und Nordamerika war vor allem der Ausbeutung der Kolonien geschuldet. Diese dienten den imperialistischen Mächten als Rohstofflager von Öl, Holz, Metallen, Gold, Diamanten und Menschen, und sie waren zugleich Produktionsstätten billiger Arbeitskräfte und Absatzmärkte für den Massenkonsum. Schon aus diesen Gründen würden die imperialistischen Mächte auf ihre politischen Einflußnahmen nicht verzichten. Eine Dekolonialisierung ohne nationale Befreiung mündete im Neokolonialismus, der getragen wurde von den kollaborierenden Eliten, die im Namen der imperialistischen Mächte die Ausbeutung fortsetzten. Im Zuge der Befreiungskämpfe in Asien, Afrika und Lateinamerika, in denen aus den Partisaneneinheiten jeweils ein neuer, unabhängiger Staat entstehen würde, gerieten auch die "Metropolen" in den Strudel dieser Kämpfe. Der Krieg verblieb nicht in der Region, sondern er wurde durch die vielen Arbeitskräfte, die in den Wohlstandsgesellschaften Arbeit und Auskommen suchten, nach Paris, London, New York oder Berlin getragen. Dieser "internationalisierte Krieg" beeinflußte die politische Situation in den Metropolen auf vielfache Weise.

Die Kriegskosten oder der Verlust der Kolonien verteuerten die Rohstoffe, zerstörten die billigen Produktionsstätten und Märkte und steigerten die Staatsausgaben, so daß der Lebensstandard in den "Metropolen" ganz allgemein sank. Mit der einsetzenden Verarmung gerade auch der unteren Mittelschichten, wozu auch die gut verdienende Arbeiterschaft zu rechnen war, verlor der Wohlfahrtsstaat die Fähigkeit, für den sozialen Ausgleich zu sorgen. Jetzt wurde der "Sicherheitsstaat" als Militär- und Polizeistaat bedeutsam. Als "autoritärer Staat" führte er den militärischen Krieg in den Armutskontinenten und den geheimen Krieg gegen die Opposition in Westeuropa oder Nordamerika. Die doppelte Kriegsführung unterlief die legale Verfassung, die durch Ausnahmegesetze Schritt für Schritt ausgehebelt wurde. Der "autoritäre Staat" transformierte sich dadurch selbst in die offene Diktatur. Die Reste der Arbeiterbewegung würden sich durch die sozialen und politischen Zuspitzungen radikalisieren und zurückkehren in die Widersprüche von Klassenkampf. Eine subversive Intelligenz mußte deshalb mit den unterschiedlichen Befreiungsbewegungen solidarisch sein. Sie war aufgerufen, deren Rigorismus gegen die imperialistische Politik und Kultur zu übernehmen. Sie mußte sich vom vorherrschenden Politikkalkül einer Parteiendemokratie lösen und zugleich Formen von Protest und Widerstand entwickeln, die außerhalb dieser Ordnung standen. Für Dutschke enthielten die "Parteimaschinen" der westlich verfaßten Demokratien genauso wie die Kaderpartei der östlichen Diktatur die Machtkonzentration von Politik, die jede Opposition, die sich auf diese Spielregeln einließ, absorbieren oder kriminalisieren würde. Alternativen entstanden in der Grauzone demokratischer Rechte und des Außerparlamentarismus und die"antietatistische" Opposition mußte so organisiert sein, daß sie gerade nicht die "Parteimaschine" oder die "Kaderpartei" widerspiegelte, sondern Raum gewann für eine radikaldemokratische Neukonstituierung.

Die subversive Intelligenz in den "Metropolen" hatte Gemeinsamkeiten mit der revolutionären Intelligenz der "Peripherie". Diese mußte den Einfluß der fremden Kultur ablegen und sich auf die eigenen Traditionen besinnen. Sie mußte in Kleidung, Musik, Poesie, Sprache, Werten und politischen Maßstäben demonstrieren, daß sie dem Machtkalkül des Imperialismus widersprach. Der Imperialistische Staat mit Armeen und Märkten, Karrieren und Angeboten mußte im Kopf zerstört werden. Das Denken mußte sich lösen von den Prachtbauten, Geschäftsstraßen, Luxus, Lebensstil, Korruption und Borniertheit der Kolonialherren, durfte sie nicht kopieren oder in der Befangenheit des ewigen Knechts anerkennen. Sie mußte die vornehmen Viertel verlassen und in die Elendsbezirke einkehren. Bescheidenheit, Aufrichtigkeit und Verantwortung mußten gegen die Karriere, das "große Geld" und die Dekadenz der Herrschenden gestellt werden. Die Diener des Kolonialstaates mußten zum eigenen Volk zurückfinden und dessen Ausbeutung und Unterdrückung ablehnen. Ähnlich war auch die subversive Intelligenz aufgerufen, sich dem Angebot von Aufstieg und hohem Lebensstandard zu verweigern. Die Rückkehr zur Bescheidenheit hatte hier jedoch die Schwierigkeit, daß die Traditionen kaum noch im Volk Substanz hatten und zugleich durch den "totalen Krieg" verwüstet waren. Die Rückbesinnung auf die traditionellen Werte mußte einen Bezug zu den revolutionären Traditionen der Arbeiterbewegung herstellen. Die neue Gliederung des Volkes im "Schmelztiegel" der Nachkriegszeit mußte überhaupt erst zur Kenntnis genommen werden. Die Sorgen und Hoffnungen der kleinen Leute mußten anerkannt werden. Die Verweigerung der imperialistischen Kultur gegenüber baute auf den Freiheitswillen der Akteure und auf die Gegnerschaft zum Opportunismus in Ost und West. Dieser hatte nach 1945 dazu geführt, daß die Nachkriegseliten jeweils die Machtordnung der Besatzungsmächte akzeptiert hatten. Jetzt sollten die unterschiedlichen Werte dieser Ordnung abgelehnt werden. Wie im Befreiungskrieg der Kolonien sollte dem Befreiungskampf in den Metropolen eine Art "Kulturrevolution" vorausgehen, die die moralische Disposition und das Handeln einer subversiven Intelligenz grundlegend verändern würde. Der Kern des Antiimperialismus bestand jetzt nicht in einer "Imperialismustheorie", die zur Zeit des Ersten Weltkrieges die unterschiedlichen Teile der Arbeiterschaft zur "Revolution" motiviert hatte. Jetzt gruppierte sich die antiimperialistische Haltung um einen "Kulturkampf". (...) Die Parole von Che Guevara, "zwei, drei, viele Vietnams" zu schaffen, bedeutete für Dutschke, daß die subversive Intelligenz die nationalen Traditionen überhaupt wieder wahrnahm und auswertete, um handlungsfähig zu werden.

Rudi Dutschke auf einem Protesttag gegen den Vietnam-Krieg am 21. Oktober 1967: Die Außer-parlamentarische Opposition (APO) richtete sich gegen die offizielle antikommunistische Kriegspropaganda

 

Bernd Rabehl, DDR-Flüchtling 1961, war 1967 /68 Mitglied im Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). Seit 1973 lehrt er an der FU Berlin Soziologie. Der Text ist ein Auszug aus seinem Buch "Rudi Dutschke. Revolutionär im geteilten Deutschland", das gerade in der Edition Antaios, Dresden, erschienen ist.


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