© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/02 01. November 2002

 
Kostspielige Mißverständnisse
Balkan: Unabhängigkeit Montenegros ist nur verschoben / Bundeswehreinsatz in Mazedonien kann den Bestand dieses Staats nicht dauerhaft sichern
Carl Gustaf Ströhm

Die "westliche Logik" - man könnte auch von "Germanozentrismus", oder (weniger vornehm) von "deutscher Nabelschau" sprechen, treibt besonders in der Balkan- und Südosteuropapolitik seltsame Blüten, auch und gerade unter der rot-grünen Bundesregierung. Das zeigte sich dieser Tage anhand zweier Entwicklungen, die von Teilen des deutschen politischen "Establishments" offenbar in ihrer Tragweite nicht ganz begriffen wurden.

Da war einmal der Sieg des montenegrinischen Präsidenten Mile Djukanovic und seiner "Liste für ein europäisches Montenegro" und die relative Niederlage der projugoslawischen "Koalition für einen Wechsel" bei den vorgezogenen Parlamentswahlen vor zwei Wochen. Das wurde in manchen deutschen Kommentaren als gewaltiger Erfolg der europäischen Idee im "Land der schwarzen Berge" gefeiert. Dabei wurden zwei nicht unwesentliche Einzelheiten geflissentlich übersehen: Erstens hat sich am Kräfteverhältnis in dem bis 1918 unabhängigen Königreich nach dieser Wahl kaum etwas geändert.

Die beiden rivalisierenden Blöcke - "Separatisten/Nationalisten" auf der einen, "Pro-Serben" (also Verfechter einer engen Vereinigung mit Belgrad) auf der anderen Seite - sind immer noch etwa gleich stark. In einem so kleinen Land wie Montenegro genügten wenige tausend Stimmen, um die Waagschale auf die eine oder andere Seite zu neigen. Zweitens hat sich der 39jährige Djukanovic zwar äußerlich der europäischen Sprachregelung angepaßt - und die verlangt von ihm, auf den "Separatismus", also die Eigenstaatlichkeit, zu verzichten. Aber der Balkan wäre nicht Balkan und Montenegro nicht Montenegro, gäbe es nicht auch in dieser Frage die "zwei Gesichter" - wie schon in der Türkenzeit. Ein Gesicht zeigte man dem türkischen Feudalherrn oder Feldherrn - das zweite Gesicht behielt man für den Hausgebrauch.

Präsident Djukanovic hat natürlich nicht auf sein Ziel verzichtet: Er will auf lange Sicht die volle Unabhängigkeit Montenegros samt internationaler Anerkennung seiner staatlichen Souveränität. Nach dem US-Motto "If you can't beat them - join them" hat er sich gewissermaßen die Europa-Fahne umgehängt: Denn ein "europäisches Montenegro" kann nur ein unabhängiges Montenegro sein. Es wird dem Westen sehr schwer fallen, einem so plakativen Pro-Europäer wie Djukanovic auf lange Sicht diesen Wunsch zu verweigern. Schon heute hat Montenegro fast alle Elemente der Unabhängigkeit, außer einem eigenen Uno-Sitz: Währung, Banksystem, Zoll und ein eigenes Rechts-und Schulwesen.

Scheinbar ganz anders - aber dann doch wieder ähnlich ist der Fall Mazedonien gelagert, mit dem sich die Deutschen angesichts des letzte Woche vom Bundestag verlängerten Bundeswehr-Mandats intensiver werden beschäftigen müssen. Mit 23.713 Quadratkilometern und nicht ganz zwei Millionen Einwohnern scheint das ein überschaubares und - theoretisch - leicht beherrschbares Gebiet zu sein. Aber der Teufel steckt hier im Detail. Mazedonien - das früher zu Jugoslawien bzw. Serbien gehörende "Vardar-Mazedonien" (heute die 1991 gegründete Republik Mazedonien), zu dem dann noch das griechische "Ägäisch-Mazedonien" und das bulgarische "Pirin-Mazedonien" kommen, war schon im 19. und über weite Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ein Pulverfaß.

In den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts fand der "Terrorismus" nicht wie heute im Nahen Osten oder Südostasien, sondern in Mazedonien statt. Die Innere Revolutionäre Mazedonische Organisation (IMRO) war in blutige Attentate verwickelt. Es ist vielleicht nicht ganz abwegig, die damaligen Mazedonier mit den heutigen Tschetschenen oder Palästinensern zu vergleichen.

Das ging bis in schaurig-skurrile Einzelheiten: Zum Beispiel wurden von den mazedonischen Nationalisten im Kampf gegen die Osmanen vor dem Ersten Weltkrieg sogenannte Eselsbomben eingesetzt: Man trieb einen mit Sprengstoff beladenen Maulesel (wie sie damals auf dem Balkan überwiegend als Transportmittel verwendet wurden) mitten in eine dichte Menschenmenge und brachte die Ladung dann zur Explosion.

In Mazedonien, das heute noch das "Scharnier" des Balkans ist, in dem sich die Nord-Süd- und die Ost-West-Verbindungen kreuzen, brachen die Konflikte zwischen Bulgaren und Griechen, Bulgaren und Serben, Albanern und Serben aus. Die Folgen dieser Auseinandersetzungen sind bis heute spürbar: Auch die Auseinandersetzung zwischen christlicher Orthodoxie und Islam spielt eine Rolle und - ins Ethnische übertragen - der Kampf zwischen geburtenfreudigen, meist islamischen Albanern und (ganz im westlichen Sinne) "geburtenfaulen" slawischen Mazedoniern. Das alles schafft eine äußerst labile Situation mit der Möglichkeit neuer Konflikte zu jeder Zeit - nur zwei Drittel der Einwohner der Republik Mazedonien sind slawische Mazedonier, über ein Viertel Albaner. Sollte es ein unabhängiges albanisches Kosovo geben, dann stellt sich auch die Frage der staatlichen Zugehörigkeit für die mazedonischen Albaner - mit der Konsequenz eines Groß-Albaniens.

Hier sind durchaus kritische Fragen angebracht. Bismarck sagte einst, der Balkan sei ihm nicht die Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert. Was aber geschieht, wenn sich herausstellen sollte (wie das ja schon jetzt im Kosovo und in Bosnien der Fall ist), daß die "Friedensmission" der Bundeswehr in Mazedonien zwar äußerlich erfolgreich scheint, im Innern aber in Wirklichkeit gar nichts gelöst und geregelt wurde? Die Vorstellung, das Bundeswehrmandat in Mazedonien bis in alle Ewigkeit verlängern zu müssen, jagt einem kalte Schauer über den Rücken. Ist es der Sinn und Zweck deutscher Streitkräfte, sich als Schiedsrichter oder gar Kolonialstreitmacht in einem Gebiet zu bewegen, wo man sich am Ende nur bei allen Beteiligten unbeliebt machen kann? Sollte man nicht einmal "hinterfragen", ob man es als "Erfolg" bezeichnen kann, wenn bei Nichtverlängerung des Mandats und Abzug der Ausländer womöglich der alte Feuerzauber zwischen den ethnischen Gruppen wieder losgeht?

Am bedenklichsten aber ist die Tatsache, daß deutsche (und überhaupt westliche) Truppen in diesen Breiten die Demokratie, Selbstbestimmung und Freiheit verteidigen sollten, dann aber am Ende etwas ganz anderes herauskommt. Was für eine Freiheit ist es, wenn ausländische Emissäre, EU-Ultimaten und Sanktionsdrohungen von der örtlichen Bevölkerung ein politisches Verhalten geradezu erzwingen wollen? Jenen in Berlin, die da glauben, mit dem Ausweichen nach Mazedonien die heiße Kartoffel "Irak" vermeiden zu können, kann man nur wünschen, daß es sich nicht um ein kostspieliges Mißverständnis handelt.


 
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