© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/02 01. November 2002

 
Bitterer Sieg der russischen Staatsgewalt
Moskauer Geiseldrama: Die Chance auf Unabhängigkeit für Tschetschenien ist nun für Jahrzehnte verspielt
Wolfgang Seiffert

Eines stand von vornherein fest: wenn das Geiseldrama ein friedliches, un-blutiges Ende haben soll, dann nur dann, wenn die Terroristen nachgeben, sich mit dem Angebot freien Abzugs zufrieden- und die Geiseln freigeben. Dazu ist es nicht gekommen, das war zwar nicht vorauszusehen, aber zu befürchten. Der notwendige Druck auf die zu Mord und Selbstmord entschlossenen Terroristen war zu schwach.

Auch die meisten deutschen Medien, einschließlich mancher "Rußlandexperten", zeigten sich leider nicht auf der Höhe der Zeit. Während einer noch andauernden terroristischen Bedrohung von über 700 Geiseln immer wieder über den Krieg in Tschetschenien und die tatsächlichen oder vermeintlichen Menschenrechtsverletzungen durch russische Militärs und Sondereinheiten zu berichten, grenzt einfach an Rechtfertigung der mörderischen Terroristen. Hätte sich Ähnliches in Deutschland abgespielt, Bundesinnenminister Otto Schily hätte wohl nicht gezögert, darauf zu verweisen, daß solches Verhalten den Tatbestand der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung nach Paragraph 129/129a Strafgesetzbuch erfüllt.

Natürlich gibt es einen politischen Hintergrund; bei welchem Terrorakt, ob in Israel/Palästina, New York oder Mogadischu ist das nicht der Fall? Doch die politischen Motive, die die Terroristen vorgaben und manche Medien nur zu gern wiedergaben, waren völlig irreal, ihre Hoffnungen naiv. Zudem waren sie völlig isoliert, sie selbst eine extreme Randerscheinung in Tschetschenien, von denen sich alle Gruppen in Tschetschenien distanziert haben. Ganz zu schweigen davon, daß der UN-Sicherheitsrat den Terrorakt einstimmig verurteilte.

Welcher Staat kann sich schon selbst in Frage stellen? Für Präsident Putin war offensichtlich, daß ein Nachgeben eben dies bedeutet hätte. Wenn man in Rechnung stellt, daß am Montag in Kopenhagen ein Weltkongreß der Tschetschenen begann, scheint die Vermutung nicht von der Hand zu weisen zu sein, daß eben diese Terroraktion in Moskau den Auftakt bilden sollte.

Die Berichte in deutschen Medien über das "Tschetschenien-Problem" ignorieren leider auch die tatsächliche Entwicklung. Bekanntlich hat Rußland mehrmals versucht, den Konflikt politisch zu lösen; es bestand eine Zeitlang sogar die Möglichkeit, eine Lösung außerhalb der Russischen Föderation zu finden. Doch bekanntlich erwies sich Präsident Maschadow als unfähig, innenpolitische Stabilität zu sichern. Er konnte einen Vorstoß islamischer Extremisten nach Dagestan nicht verhindern. Wieder reagierte Rußland auf eine terroristische Aktion, nicht umgekehrt.

Heute haben die Tschetschenen die Chance, ihre Unabhängigkeit zu erlangen, für Jahrzehnte verspielt - und zwar durch eigene Schuld. Die Befreiung von 700 Geiseln war angesichts der zahlreichen Opfer ein bitterer Sieg der russischen Staatsgewalt. Dieses Ergebnis zeigt aber auch erneut, daß eine Lösung des Problems nur unter den gegenwärtig unabänderlichen Bedingungen erfolgen kann:

l Tschetschenien ist ein untrennbarer Bestandteil der Russischen Förderation.

l Es kann sein Selbstbestimmungsrecht nur im Rahmen der Russischen Föderation ausüben, das heißt Tschetschenien kann einen Autonomiestatus bekommen, wie etwa Tartastan.

Dazu ist Putin seit langem bereit; dies zeigt seine Bereitschaft, eine entsprechende Verfassung ausarbeiten zu lassen. Bisher hat der offizielle Westen diese Rahmenbedingungen bejaht. Er muß aufpassen, daß er in Tschetschenien nur jene Gruppen unterstützt, die diese Bedingungen ebenfalls akzeptieren. Putin ist aus dem Ereignis gestärkt hervorgegangen. Er wird seinen Weg weitergehen.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war bis 1994 Di-rektor des Instituts für osteuropäisches Recht der Universität Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.


 
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