© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/02 01. November 2002

 
Plagiate, Repliken, Duplikate
Der Architekturstreit um die Wiederherstellung zerstörter Bauten bringt die Denkmalpflege in Erklärungsnot
Claus-M. Wolfschlag

Seit der Diskussion um die Wiederherstellung der Stadtschlösser in Berlin und Potsdam sowie der Potsdamer Garnisonskirche scheint der Streit um die zukünftige bauliche Gestaltung deutscher Innenstädte in eine neue Phase getreten zu sein. Eine mehrheitlich modernistisch ausgerichtete Architektenzunft und -lobby stört sich an einigen historisierenden Bestrebungen jüngerer Baukünstler und diversen Bürgerinitiativen zur Wiederherstellung zentraler, im Gefolge des Zweiten Weltkrieges oder der Nachkriegszeit zerstörter Baudenkmale. Obwohl die meisten Restaurierungsversuche bislang gescheitert sind bzw. noch ihrer Verwirklichung harren, schrillen bei den Modernisten, bei Bauhauskopierern und Dekonstruktivisten die Alarmglocken, könnte sich eine Basisrevolte im Architekturbereich ausbreiten, die den gläsernen Flachdachkästen der ewigen Einkaufszentren, Gewerbeparks und Konzernzentralen ernsthafte Konkurrenz böte. Die Abwehr erkärt sich daraus, daß jede Rekonstruktion eine Art Offenbarungseid für die modernistische Gegenwartsarchitektur darstellt. In diesem Streit zwischen den Fronten steht die staatliche Denkmalpflege, die sowohl von Modernisten wie auch den restaurativen Tendenzen als Bündnispartner oder Berater zu gewinnen versucht wird.

Zu einer Podiumsdiskussion über das Thema "Denkmalpflege - mit den Konzepten von gestern für die Stadt von morgen?" hatte nun die Polytechnische Gesellschaft am 16. Oktober in das Auditorium des Deutschen Architektur Museums in Frankfurt am Main geladen. Die Gesprächsleitung hatte Dieter Bartetzko, modernistisch ausgerichteter Architekturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der die Diskussion schnell auf die derzeitigen "großen Themen" der Rekonstruktionstendenz, wie das Berliner Stadtschloß, richtete.

Christoph Mohr vom hessischen Landesamt für Denkmalpflege distanzierte sich vom Veranstaltungstitel, da Denkmalpflege nichts mit "Konzepten von gestern" zu tun habe. Die Denkmalpflege interessiere sich nur für die Erhaltung des Bestehenden, nicht aber für Rekonstruktionen von Verlorenem. Heute gehe man unbefangener mit rekonstruktiven Tendenzen um als die maßgebliche Historikerriege, die in Gegnerschaft zu historisierenden Tendenzen stehe. So komme es zu Ergebnissen wie der in den achtziger Jahren rekonstruierten Fachwerk-Ostzeile auf dem Frankfurter Römerberg oder der bald erfolgenden Wiederherstellung der dortigen alten Stadtbibliothek aus privaten Mitteln.

Der Architekturhistoriker Wolfgang Pehnt von der Ruhruniversität Bochum beklagte, in einem "Zeitalter der Repliken und Duplikate" zu leben. Authentizität gerate dabei ins Hintertreffen. Immer wieder versuchte Pehnt, die Denkmalpflege als Bündnispartner für seinen modernistischen Einsatz gegen die Rekonstruktionstendenzen einzuspannen. So kritisierte er mehrfach die Denkmalpfleger, gegen Projekte wie das Berliner Stadtschloß nicht entschieden genug Widerspruch eingelegt zu haben. Die Denkmalpflege solle den Kopierern sagen, daß sie "Scheißdreck" machten.

Der 1951 geborene Architekt Christoph Mäckler vertrat einen alternativen Standpunkt. Mäckler interpretierte das Entstehen der umfassenden Bau-Denkmalpflege in den siebziger Jahren als Resultat einer zunehmenden Furcht vor moderner Architektur. Während in früheren Zeiten die Menschen mit Staunen und Freude neuen Bauvorhaben entgegensahen, erwarteten sie seit der Moderne nur noch Übles, wenn sie Bagger anrollen sehen. Dies habe einfache Ursachen: Die Architekten bauten heute nicht mehr im Sinne allgemein gültiger Baukultur, sondern "aus dem Bauch heraus". Nur die wenigsten setzten sich intensiv mit dem Ort, den Materialien und Formen auseinander. Statt dessen prägten namenlose Plagiate die Landschaft.

Mäkler kritisierte in diesem Zusammenhang die Bauausbildung an den deutschen Hochschulen. "Wir müssen zurück zu vernünftiger Architektur", verlautbarte er. Dies sei selbst bei Moderne-Vorreitern wie Le Corbusier zu erkennen gewesen. Le Corbusier hätte als radikale Reaktion auf den Historismus des 19. Jahrhunderts das Haus vollkommen auf den Kopf gestellt. Es stehe auf Stelzen, besitze kein Dach mehr, habe keine, das Tragen symbolisierende, Fassade mehr. Doch Le Corbusier sei im Alter wieder zu traditionelleren Leitbildern zurückgekehrt. Heute würden aber von seinen Nachahmern immer noch keine Dachformen gebaut. "Es wurde uns erklärt, daß ein Walmdach 'spießig' sei. Und ein Krüppelwalmdach sei noch etwas spießiger", kritisierte Mäckler den modernistischen Geist. Gauben, Erker - "ein sehr schönes Bauelement" -, Trauf- und Giebelständigkeit seien als Architekturformen vollkommen verlorengegangen. Es gelte aber heute, diese alten Grundformen wieder zu entdecken, um das Wiederherstellen konkreter historischer Plagiate langfristig überflüssig zu machen.

Christoph Mohr zeigte sich entsetzt von Mäklers Thesen und befürchtete, es könne ein neuer Historismus aus diesen erwachsen. Die Denkmalpflege solle nur authentische Bauwerke erhalten, sich aber nicht in die aktuelle Architekturdiskussion einmischen. Beraterfunktionen bei Neubauten würden von der Denkmalpflege nur ungern übernommen. Grundtendenzen, wie jene Mäklers, seien schon in der Heimatschutz-Architektur und im "Dritten Reich" zu spüren gewesen. Dieser angedeutete Vergleich führte zu wütendem Protest bei Mäkler, der Mohr als einen Modernisten auf dem Stuhl der Denkmalpflege kritisierte.

Mäkler plädierte entschieden dafür, die Moderne weiterzuentwickeln, allerdings im Sinne einer an Poelzig und Behrens angelehnten Bautradition. Er erklärte: "Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß. Es gibt nicht nur die Entscheidung zwischen originalgetreuem korinthischem Kapitel oder Betonklotz. Es geht nicht nur um die Stilkopie, sondern um die Annäherung an den traditionellen Baukörper."

Diese Beschwichtigung Mäklers konnte die Unruhe unter der modernistischen Fraktion kaum besänftigen. Wolfgang Pehnt kritisierte das "Retro" als Tendenz gegen Modernisierungsschübe in unserer Konsumwelt. Christoph Mohr erklärte es gar zur "Gefahr", daß die Masse der Bürger Stilkopien positiv bewerten könnte. In diesem Zusammenhang kam die Rede auf ein riesiges, bislang fast unbekanntes Depot in Nürnberg. Dort lagerten große Mengen an historischen Erkern, die nach dem Krieg aus der Trümmerwüste gerettet werden konnten. Würde dieser Fund allzu bekannt, so wurde befürchtet, kämen findige Investoren womöglich auf die Idee, neue Bauvorhaben, gar ganze Straßenzüge mit diesen Erkern schmücken zu wollen. Auch in Frankfurt am Main lagerten noch die Holzvertäfelungen des historischen Salzhauses. Bestrebungen einer Bürgerinitiative zur Wiederherstellung des Salzhauses verliefen vor zehn Jahren allerdings im Sand.

In der folgenden Publikumsdiskussion wurde das Thema angeschnitten, daß viele der heute wiederhergestellten Baudenkmale nach dem Krieg nur mittelschwer beschädigt waren, also leicht hätten gerettet werden können. Trotzdem bemühten sich bis in die siebziger Jahre hinein modernistische Stadtplaner, die Teilzerstörungen als Chance zu nutzen, um Tabula rasa mit dem Abbruchhammer gegen die verhaßte traditionelle Architektur zu machen. Aus diesem Grund erklärt sich auch die irrationale Zähigkeit der Modernisten, die ehemals von ihnen durchgeführte Zerstörung zu verteidigen und jede "revisionistische" Tendenz hartnäckig zu bekämpfen.

So werden für Wiederaufbaupläne willkürliche Hürden auferlegt, die die Historisierer einzuhalten hätten. Wolfgang Pehnt beispielsweise meint, es müsse noch originale Bausubstanz vorhanden sein und der Bauort hätte zwischenzeitlich nicht anderweitig genutzt werden dürfen. Nur unter diesen Bedingungen könne man einer Restaurierung eventuell zustimmen. Aus diesem Grund kann er sich schweren Herzens gerade noch dazu aufraffen, die Dresdner Frauenkirche zu akzeptieren. Das Berliner Stadtschloß allerdings lehnt er weiterhin entschieden ab.

Und er ahnte sicherlich, daß noch einige andere Restaurationsinitiativen in den Startlöchern sitzen könnten. Man denke an die Moritzkapelle und das "Bratwurstglöcklein" in Nürnberg, an das Stadtschloß in Braunschweig oder das Schloß in Zerbst, deren Wiederherstellungsinitiativen gescheitert sind - vorerst.

Festzuhalten bleibt, daß die moderne Architektur angesichts der rekonstruktiven Tendenzen sich selber ein Armutszeugnis ausstellt. Die Bürger sollen gefälligst in den Glas- und Stahlwaben der hochbezahlten Architektenriege leben und arbeiten, dabei nicht aufbegehren und das als "schön" annehmen, was ihnen die Marketing-Strategien des Architekturestablishments vorschreiben. Die unstillbare Sehnsucht nach Schönheit läßt die Modernisten zittern, könnte sie doch ihr ganzes Macht- und Denkgefüge zum Einsturz bringen. Christoph Mäkler warnte deutlich: "Sie sollen nicht vergessen, daß die Moderne nur ein Dreck unter dem Fingernagel ist angesichts der jahrtausendealten Baukultur."


 
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