© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    45/02 01. November 2002

 
Die Revolutionäre sind müde
Franz Walter beschreibt hundertvierzig Jahre SPD als deutsche Gesellschaftsgeschichte
Kurt Zach

Über die Geschichte der Sozialdemokratie in Deutschland kann man dickleibige wissenschaftliche Abhandlungen verfassen - und hat es auch getan, wie selbst das knappe Literaturverzeichnis des hier zu besprechenden Bandes zur Genüge nachweist. Oder man kann auf 280 eingängig geschriebenen Seiten den Bogen von Lassalle bis Schröder spannen, ohne sich in ermüdenden Anmerkungsapparaten zu verlieren, und trotzdem nichts Wesentliches weglassen. Franz Walter ist mit "Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte" dieses Kunststück gelungen.

Der Göttinger Professor für Politikwissenschaft schreibt seine Geschichte der SPD als deutsche Gesellschaftsgeschichte. In seinem Porträt entfaltet er den ganzen Reigen schillernder Persönlichkeiten, die im Laufe ihrer fast hundertvierzigjährigen Geschichte die deutsche Sozialdemokratie geprägt haben: Abenteurer und Visionäre, Konvertiten und Renegaten, Charismatiker, Demagogen und Populisten, Präsidenten, Kanzler und Staatsmänner. Die Innenschau überwiegt; der gesamthistorische Rahmen wird oft nur angerissen. Für eine Partei, die sich die längste Zeit ihrer Geschichte als Gegenkultur zum bürgerlichen Deutschland verstand, ist das eine angemessene Betrachtungsweise: So wird erkennbar, wie weit der Weg vom Warten auf den großen "Kladderadatsch" im hermetischen Handwerkerzirkel bis zum Kanzler der Bosse im Brioni-Anzug tatsächlich war.

Bis in die sechziger Jahre hinein war die SPD im Grunde die disziplinierte Funktionärspartei geblieben, als die sie sich im Kaiserreich erfolgreich etabliert hatte - geprägt von marxistischer Revolutions- und Klassenkampfrhetorik, im Handeln aber pragmatisch bis in die Knochen, sei es bei der Organisation einer sozialdemokratischen Gegenkultur zur Verbesserung der materiellen und Bildungssituation der Arbeiterschaft, sei es als staatstragende Verantwortungspartei wider Willen der Weimarer Republik.

Der gewaltige Wandel, den die Sozialdemokratie unter Willy Brandt und seinen "Enkeln" durchmachte, ist das Herzstück von Walters Darstellung. Den Schlüsselbegriff des Schröderschen Griffs nach der Macht überträgt Walter dabei durchaus einleuchtend auf diesen Epochenwechsel: Es ging um die "neue Mitte". In der ausgehenden Ära Adenauer war bereits der Zugang zur akademischen Bildung für breitere Schichten geöffnet worden. Der Wandel von der bürgerlichen zur Arbeitnehmergesellschaft war die Chance der SPD und ihr Schicksal: Das Erstarken neuer, "intellektueller" Milieus, denen sich die Traditionspartei bereitwillig öffnete, ging einher mit dem Zerbröckeln der traditionellen Arbeitermilieus.

Virtuos mischt Walter in seinem lebendigen Bild Geschichte, Soziologie und Biographie. Vor allem die Akteure im "Tanz der Enkel" während der Kohl-Ära charakterisiert Walter treffend mit kurzen, präzisen Strichen: Lafontaine ("ihm war nichts heilig"), Engholm ("nicht ausreichend kommunikativ"), Scharping ("wollte 1993 schon Meister sein, dabei war er - zumindest auf Bundesebene - noch Lehrling") und natürlich Gerhard Schröder: "Mit seinem enormen Facettenreichtum gelang es ihm, Wählerallianzen zu schmieden, die Vogel oder Scharping nicht zustande bekamen und die sich auch durch programmatische Manifeste nicht hätten herbeiführen lassen. (...) Er nahm Stimmungen auf, machte sie sich zu eigen und artikulierte sie, je nach Kontext und Konstellation."

Anschaulich beschreibt und analysiert Walter, warum Helmut Schmidt an den Verdauungsproblemen scheitern mußte, die seine Partei mit ihrer im Zuge der Öffnung neu hinzugeströmten Mitgliederschaft hatte: Intellektuelle und Salonmarxisten waren nicht nur ein Fremdkörper im überkommenen disziplinierten Funktionärsapparat; mit ihren abgehobenen verbalradikalen Positionen polarisierten sie innerhalb der eigenen Partei, ohne daß dabei konstruktive Beiträge für eine zukunftsweisende Programmatik herausgekommen wären.

So lebendig Walter die turbulenten siebziger und achtziger Jahre der SPD schildert, so knapp und nüchtern fällt seine Darstellung der ersten Schröder-Legislaturperiode und sein Ausblick auf die Zukunft aus. Die Intrigen und Grabenkämpfe der "Enkel" macht Walter dabei als Erfolgsschule des jetzigen Kanzlers aus: "Schröder hat sein Handwerk in der chaotischen SPD erlernt. Inmitten von Intrigen, Generations- und Kulturgefechten hat er den Instinkt für Gefahren entwickelt, mit dem er sich im Haifischbecken der Berliner Politik behaupten kann." Schröder könne im übrigen auch deshalb heute erfolgreich sein, gerade weil auf den Funktionärs- und Delegiertenposten fast alle die zu finden seien, die seinerzeit seinem Vorbild Helmut Schmidt das Leben so schwer gemacht hätten: Damals hätten diese ihre Zukunft noch vor sich gehabt und den Sturz des Kanzlers nicht fürchten müssen, heute seien sie zwanzig Jahre älter und hätten selbst keine Perspektive mehr, die über die des Kanzlers hinausreiche: "Die Rebellen von einst waren müde."

Der Preis für den Rückkehr der SPD zur Macht liegt, folgt man Walter, also in inhaltlicher und ideologischer Auszehrung. Der Idealismus der Aktivisten ist aufgebraucht, das verbindende moralische Überlegenheitsgefühl dahin, erstmals in ihrer Geschichte sei die SPD ein "Kanzlerwahlverein" geworden: "Heute ist die SPD ermattet."

Entsprechend düster sieht Walter die Zukunft der Sozialdemokratie in Deutschland. Das Chaos von früher sei Grundlage für die Stabilität von heute geworden; "aber die Stabilität von heute könnte morgen in die Depression führen." Die Partei, konstatiert Walter, sei "stillgelegt"; bequem für den mit ihr Regierenden, aber entideologisiert und unfähig zur Erneuerung. "Diese Partei fördert das Mittelmaß, den berechnenden und politisch übervorsichtigen Karrieristen, den Typus des selbstzufriedenen Jungabgeordneten mit Staatssekretärsambitionen. Abenteurer dagegen, kühne Vordenker, Politiker wie Lassalle, Bebel, Brandt, auch Lafontaine und Schröder bringt sie nicht mehr hervor." Womit also die SPD endgültig, wie schon beim ersten Vorstoß in die "Neue Mitte" versucht, zur "besseren CDU" geworden wäre. Die erlebt gerade in der Post-Kohl-Ära, was der SPD demnächst bevorstehen dürfte. Nicht zwangsläufig, aber doch wahrscheinlich: "Es ist nicht so sicher, daß die Sozialdemokratie noch ein weiteres Jahrhundert überstehen wird; die große Botschaft hat sie jedenfalls nicht mehr. Aber vielleicht ist das ja auch gar nicht nötig."

Nötig freilich wären mehr Verlage wie der von Alexander Fest, der dieses Buch als eines der letzten seines anspruchsvollen Programmes herausbrachte, bevor er in diesem Jahr die Tore schloß, weil der Verleger zu Rowohlt wechseln wollte. Für Visionen, scheint es, herrscht nicht nur bei Parteien schlechte Konjunktur.

Franz Walter: Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte. Alexander Fest Verlag, Berlin 2002, gebunden, 282 Seiten, Abbildungen, 24,90 Euro

Foto: Sozialdemokratische Parteischule in Berlin 1908 (unter den Lehrenden Rosa Luxemburg, Franz Mehring und August Bebel): Kühne Vordenker bringt die heutige, "stillgelegte" SPD nicht mehr hervor


 
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