© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002


Der Infarkt des Systems
Rot-Grün scheitert bei der Reform der Kranken- und Rentenversicherung
Jens Jessen

Nationalökonomie ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben", schrieb 1931 Peter Panther alias Kurt Tucholsky. Mit welchen Tricks sich gewiefte Mitarbeiter des politischen Kartells an der Lösung von Strukturproblemen vorbeimogeln, zeigt Ulla Schmidt. Bisher war ihr Handwerkszeug zur Behebung der Krise im Gesundheitswesen zwar wenig hilfreich, aber sie glaubte zumindest an seine Wirksamkeit aus ehrlicher Überzeugung. Die Taschenspielertricks, die sie jetzt als Problemlösungen anbietet, passen nicht zu ihr.

Die Maßnahmen, wie die Krankenkassen zu Geld kommen sollen, sind in ein Vorschaltgesetz gepackt, mit dem die Ministerin die Ökonomie außer Kraft setzen will. Störenfried Hans Eichel sorgt schon in diesem Jahr dafür, daß Ullas Illusionen wie Seifenblasen platzen. Ohne Rücksicht auf die Schwierigkeiten im Krankenversicherungsbereich greift Eichel schamlos in deren Kassen, um die Haushaltslöcher des Bundes zu stopfen. Das hat fatale Folgen:

l die erneute Senkung des Krankenversicherungsbeitrages für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe verursacht einen Einnahmenausfall von 700 Millionen,

l für den Zahnersatz fallen zusätzlich 400 Millionen Euro an, weil Eichel die Ermäßigung des Mehrwertsteuersatzes beseitigt und auf den vollen Satz (16 Prozent) angehoben hat.

Dazu kommt, daß die Riester-Rente wegen der sozialversicherungsfreien Umwandlung des Weihnachtsgeldes zu einem Beitragsausfall von 200 Millionen Euro für die Krankenkassen führt. Die Summe von 1,3 Milliarden ergänzt die jährlich mehrere Milliarden ausmachenden Belastungen der Krankenkassen, die mit ihrem Auftrag, Gesunde gesund zu erhalten und Kranke mit Leistungen zu versorgen, die ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sind, nichts zu tun haben. Aus politischer Schwäche hat Ulla Schmidt die unverschämten Raubzüge von Hans Eichel klaglos hingenommen. Dafür will sie jetzt die Leistungserbringer schröpfen.

Vor der Wahl hat Ulla Schmidt die deutsche Öffentlichkeit angelogen, als sie stabile Beiträge versprach. Sie war es, die für die Ausgabensteigerung bei den Arzneimitteln verantwortlich zeichnete, weil sie bei ihrem Amtsantritt das Budget für Arzneimittel beseitigte. Die Illusion, mit den Vorschlägen ließen sich 3,5 Milliarden Euro einsparen, ist abenteuerlich. Mit Marktwirtschaft haben sie nichts zu tun, eher mit blankem staatlichen Dirigismus: Preisstopp, Zwangsabgaben als Rabatte getarnt, Nullrunden bei Ärzten und Krankenhäusern, Einfrieren der Beitragssätze. Die DDR hat gezeigt, wie ein Gesundheitswesen dadurch den Bach heruntergeht. Die Illusion, mit Planwirtschaft ließen sich Probleme lösen, ist reaktionäres Wunschdenken. Jeder ordentlich ausgebildete Ökonom weiß, wohin das führt: zu Leistungsrationierungen wie in Großbritannien und Kanada.

Damit die Krankenkassen das drei Milliarden-Defizit im Jahr 2002 ausgleichen können, sollen mehr Berufsanfänger in der GKV eingesperrt werden. Damit soll mehr Geld in die Kassen der gesetzlichen Krankenversicherungen fließen. Das ist eine Illusion. Wenn die Versicherungspflichtgrenze 2002 von 3.375 Euro auf 5.100 im Jahr 2003 erhöht wird, gibt es zwar mehr GKV-Versicherte. Berechnungen aber haben ergeben, daß aufgrund dieser Maßnahme erst in 14 Jahren eine Beitragssenkung bei den Krankenversicherungen um 0,1 Prozent zu erwarten ist.

Die Krankenkassenvertreter haben die von Ulla Schmidt genährten Illusionen platzen lassen. Sie haben verkündet, daß an einer Erhöhung der Beitragssätze um 0,5 bis 1,0 Prozent im nächsten Jahr vorbeizukommen ist.

Allem Anschein nach traut auch die Ministerin ihren vorgeschlagenen Maßnahmen die Sanierung der Kassen nicht zu, sonst würde sie die Beitragssätze nicht per Gesetz für ein Jahr festschreiben. Mit den Problemen der Beitragssatzfestschreibung läßt Ulla Schmidt die Krankenkassen allein. Die Kassen können nicht einmal Kredite aufnehmen, wenn ihnen das nötige Geld fehlt, um die Versorgung der Versicherten zu gewährleisten. Das paßt gut zusammen mit den in der heutigen Situation illusionären Vorschlägen, die Kosten sparen sollen. Prävention zum Beispiel. Die mag nach zwanzig Jahren zu einer Kostensenkung führen. Heute aber kostet die Durchführung von Präventionsmaßnahmen erst einmal viel Geld, das die Kassen nicht haben. Oder die Sicherung der Qualität der medizinischen Versorgung mit dem Aufbau eines Programms für chronisch kranke Patienten und die Einrichtung eines "Deutschen Zentrums für Qualität in der Medizin". Ulla Schmidt offenbart nicht, wie die Kosten der Erarbeitung dieser Standards finanziert werden und welche Kosten bei der Umsetzung der Standards zu erwarten sind. Richtige Maßnahmen zur falschen Zeit sind falsche Maßnahmen und verschlimmern nur die Misere.

Die Versicherten in Deutschland werden 2003 erleben, was es mit den Sprüchen von Rot-Grün vor der Wahl auf sich hat: die Abzüge auf dem Gehaltsstreifen für die Sozialsicherungssysteme Rentenversicherung, Krankenversicherung und Arbeitslosenversicherung werden unter 20 Prozent sinken. Die Illusion von weniger Lohnzusatzkosten für die Unternehmen und mehr Geld auf dem Konto der Gehaltsempfänger ist geplatzt. Beschäftigung und Konjunktur zeigen das Ergebnis an. Betriebe und Arbeitnehmer werden im nächsten Jahr zusätzliche 7,3 Milliarden Euro aufbringen, damit das Rentensystem nicht gegen die Wand fährt. Allein für die Rentenversicherung sind, nach derzeitigem Stand, durch die Erhöhung des Beitragssatzes von 19,1 auf 19,5 Prozent Mehreinnahmen von 3,6 Milliarden Euro vorgesehen. Es ist eine Illusion zu glauben, damit wäre das Loch in der Rentenkasse zu stopfen. Dazu ist eine Erhöhung auf 19,8 Prozent oder um 5,8 Milliarden Euro nötig.

Wer den politischen Zirkus beobachtet, kennt die Taschenspielertricks, mit denen tatsächlich nötige Belastungen kurzfristig umgangen werden können. Man senkt die Schwankungsreserve -Rücklage der Rentenversicherungsträger- auf einen Betrag, der noch die Hälfte der monatlichen Rentenauszahlungen ausmacht und erhöht die Versicherungspflichtgrenze für die Beitragszahlungen.

Der Zuschauer ist begeistert und bedenkt die Folgen nicht. Erste Folge: mehr Menschen werden in die Rentenversicherung gepreßt. Es kommt zwar mehr Geld in die Rentenversicherungskasse, aber auch weniger Geld dem Konsum zugute. Zweite Folge: mehr Menschen haben in der Zukunft einen Anspruch auf Rente. Die Probleme der Rentenfinanzierung werden auf Kosten der nachwachsenden Generation in die Zukunft verschoben. Eine wahrhaft soziale Tat.


 
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