© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002


Recep Tayyip Erdogan
Kreide gefressen
von Klaus Gröbig

Die moderne Türkei hat ihre liebe Not mit der Demokratie. Einerseits gehört diese zum Kanon der politischen Vorstellungen des Westens, an denen sich der Staat seit Atatürk orientiert, andererseits kann sie jederzeit - wie am vergangenen Sonntag geschehen - einer islamistischen, sprich antiwestlichen Partei den Sieg bescheren. Parteienverbote haben deshalb Konjunktur. Die islamistische Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP), deren Vorsitzender der frühere Bürgermeister von Istanbul, Recep Tayyip Erdogan ist, hatte in der Tat zahllose Vorläufer, die samt und sonders vom Verfassungsgericht, das heißt in der Türkei auf Betreiben des Militärs, verboten worden sind.

Erdogans Vorgänger in der AKP-Vorläuferpartei, Necmetin Erbakan, war in den neunziger Jahren für kurze Zeit Ministerpräsident des Landes, bis ihm die Mehrheit abhanden kam, weil Parlamentarier seines Koalitionspartners ihr "weltliches Gewissen" entdeckten. Nichtsdestotrotz wurde Erbakan mittlerweile mit lebenslangem Politikverbot belegt. So mußte die Neugründung der verbotenen Wohlfahrts- (RP) und späteren Tugendpartei (FP) unter anderen organisatorischen und personellen Vorzeichen erfolgen.

Diese personifiziert Recep Tayyip Erdogan. Dennoch ist auch seine AKP mittlerweile schon wieder von einem Verbot bedroht: Jüngst hatte Erdogan ein islamisches Gedicht rezitiert, in dem davon die Rede ist, daß "die Moscheen die Kasernen, die Minarette die Bajonette" der Gläubigen seien. Erdogan ist vor allem populär, weil er als Bürgermeister mit dem levantinischen Schlendrian so wie der Korruption und Ämterpatronage in Istanbul aufgeräumt hat.

Erdogan beschreibt seine islamistische Partei inzwischen als weltlich kompromißbereit, als eine Art nahöstliche CDU - "nur nicht so ausländerfeindlich", wie er süffisant bemerkt. Dennoch kann er wegen der Gedicht-Affäre, die eine Verurteilung wegen Volksverhetzung zur Folge hatte, trotz des überwältigenden Wahlsieges seiner Partei mit 34,2 Prozent der Stimmen, nicht Ministerpräsident werden. Sein loyaler Stellvertreter Abdullah Gül wird aber vermutlich "den Sessel für ihn warm halten".

Im Gegensatz zum Christentum ist der Islam eine politische Religion und weiß für die bedrängten Gläubigen in der Not durchaus Rat: Die "Taqiya" gestattet es dem Moslem, seine Überzeugungen zu verbergen und notfalls auch Gegenteiliges zu behaupten. Dies ist nicht nur honorig, sondern gilt sogar als zwingendes Gebot. Daran sollte man denken.

Die Wahl der AKP bedeutet einen fundamentalen Politikwechsel für die Türkei. Dieser muß nicht heute und nicht morgen erfolgen, denn der 48jährige Erdogan hat noch "alle Zeit der Welt", um das umzusetzen, was er wirklich will. Erdogans Sieg jedenfalls ist so vollständig, daß er keinen Koalitionspartner benötigt. Um ihn nun noch zu verhindern, müssen schon andere Saiten aufgezogen werden.


 
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