© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
Pankraz,
Josef Kainz und die Macht von Totenfeiern

Jetzt im November gehen routinemäßig die Totengedenkreden wieder los, die fast alle verlogen, klischeehaft und von politischen Opportunitäten entstellt sind. Man sollte sich dagegen wappnen, indem man eine der großen überlieferten Reden der Vergangenheit liest. Pankraz empfiehlt jene, die Hugo von Hofmannsthal 1910 im Deutschen Theater in Berlin auf der Trauerfeier für Josef Kainz gehalten hat. Es gibt keinen anderen Text, wo sich uferloser Kummer und bewahrte Würde, Schmerz und Tröstung kraftvoller artikulieren und genauer die Waage halten.

Natürlich ist er hochprofessionell. Er gilt einem Schauspieler und wird im Schauspielhaus vorgetragen, tönt gewissermaßen "im Milieu", wo man alle Register der Rhetorik aus dem ff beherrscht, jede Kadenz voll abzuschmecken versteht. Hofmannsthal spricht - man denke! - in Versen, in fünffüßigen Jamben, und er entfaltet ein geradezu hemmungsloses "O Mensch"-Pathos. "O Unrast! O Geheimnis, offenkundiges/ Geheimnis menschlicher Natur! O Wesen,/ Wer warest du? O Schweifender! O Fremdling!"

Aber nichts wirkt gesucht oder gar künstlich. Vielmehr tobt sich spontane Trauer aus, hallt wütender Schmerz, unendliches Verlustbewußtsein. Dieser Josef Kainz muß wirklich ein Dämon gewesen sein, für sein Publikum in unwirkliche Sphären entrückt und dennoch so nah, so präsent, daß sie ihn mehr liebten als sich selbst und sich über seinen Tod (mit zweiundfünfzig) schier die Kleider zerrissen. "Wie königlich er standhielt! Wie er schmal,/ Gleich einem Knaben stand! O kleine Hand/ voll Kraft, o kleines Haupt auf feinen Schultern,/ O vogelhaftes Auge, das verschmähte,/ Jung oder alt zu sein, schlafloses Aug..."

Die Zeitungen berichteten am Tag nach der Feier, die Leute im Parkett hätten laut und gestenreich geweint bei Hofmannsthals Worten. Und es waren keine Twen- und Teenager-Mädchen, wie sie heute irgendwelchen Pop-Idolen zukreischen, es waren rauschebärtige Kommerzienräte und straffe preußische Offiziere, langjährige Abonnement-Inhaber, Meister ihres Fachs, Zunftgenossen. Gerhart Hauptmann war unter den Trauernden und Richard Dehmel, Otto Brahm, Richard Strauss, Wilhelm Bode.

Alle diese Koryphäen weinten um einen konkret und exklusiv Geliebten - aber sie weinten gleichzeitig um etwas sehr Allgemeines, allgemeinst Verbindendes, nämlich um die Sprache, die nun verloren war. Kainz war es gewesen, der die Texte der großen Tragödienschreiber, von Aischylos bis Shakespeare und Schiller, nach übereinstimmendem Zeugnis zu unvergleichlicher Gewalt erhoben, ihnen nicht nur Klang, sondern ebenso Gestalt und Körper, Allgegenwart verliehen hatte. Und Hofmannsthal in seiner Totenrede brachte die Allgegenwart noch einmal hervor, sie in einem bannend und verabschiedend.

"O hätt ich seine Stimme, hier um ihn/ Zu klagen! Seinen königlichen Anstand,/ Mit meiner Klage dazustehen vor euch!/ Dann wahrlich wäre diese Stunde groß/ Und Glanz und Königtum auf mir, und mehr/ Als Trauer: denn dem Tun der Könige/ Ist Herrlichkeit und Jubel beigemengt,/ Auch wo sie klagen..."

Die Assoziation zum Königtum ist wohlbedacht. Königtum im Idealverständnis repräsentiert nicht nur das Ganze, wie es heute auch die gewählten Parlamente zu tun begehren, es verkörpert und bekräftigt in seinem rituellen Tun auch die Konnektion des Menschen zu Gott, den Draht nach oben, das Sollen und das Gesetz. Und einem Mimen wie Kainz gebührt königlicher Rang, weil er in seinem Sprechen - konkreter und eingängiger als sämtliche Hofrituale zusammengenommen - die Sphäre des Sollens sichtbar und vernehmbar werden läßt und in seinem Zeichen die versammelte Theatergemeinde eint und erhöht.

"O seine Stimme, daß sie unter uns/ Die Flügel schlüge! - Woher tönte sie?/ Woher drang dies an unser Ohr? Wer sprach/ Mit solcher Zunge? Welcher Fürst und Dämon/ Sprach da zu uns?... Ein Unverwandelter in viel Verwandlungen,/ Ein nie bezauberter Bezauberer,/ Ein Ungerührter, der uns rührte, einer,/ Der fern war, da wir meinten, er sei nah."

Kainz machte sich mit seinem Publikum nie gemein. Es muß eine Art Brechtsche Verfremdung in seinen Auftritten gewesen sein, nur war sein Medium nicht der pädagogische Zeigefinger, sondern eben die Sprache. Sie stellte er aus, sie ließ er durchsichtig werden wie den duftigsten Schleier, so daß seine Zuhörer respektive Zuschauer gleichzeitig hörten und nicht hörten, sahen und nicht sahen. Fast muß man Mitleid haben mit den heutigen Schauspielern, wenn man sie an dem mißt, was uns da überliefert wird. Sie sind keine Könige mehr, nicht einmal mehr Handwerker, nur noch Regiesklaven, die auf Kommando zappeln müssen.

Was aber die Toten betrifft, derer demnächst an Totensonntag und Volkstrauertag gedacht werden wird, so rührt sich in Vorausahnung des Kommenden auch für sie Mitleid. Man wünschte ihnen von Herzen einen Gedenkredner wie Hofmannsthal, der es verstand wie kein Zweiter, (Weiter-)Leben und Tod ineinander zu spiegeln. "Geheimnisvolles Leben! Dunkler Tod!/ O wie das Leben um ihn rang und niemals/ Ihn ganz verstricken konnte ins Geheimnis/ Wohllüstiger Verwandlung! Wie er b l i e b".

Das ist das Große an Reden wie der von Hofmannsthal am 22. Oktober 1910 im Deutschen Theater zu Berlin: Sie sprechen über einen einzelnen und treffen alle - und trösten alle. Der größte Trost liegt dabei gar nicht in den angesprochenen Topographien des vergangenen Lebens, sondern in der Sprache selbst, ihrem schwebenden Klingen und Zusammenfügen.

Leider wissen wir nicht, wie Hofmannsthals Stimme geklungen hat. Wie die von Kainz klang, erfahren wir durch Hofmannsthal: "Weißer als Licht der Sterne. Dieses Lichtes/ Bote und Träger bist du immerdar./ Und als des Schwebend-Unzerstörbaren/ Gedenken wir des Geistes, der du bist./ O Stimme! Seele, aufgeflogene!"


 
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