© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
Nymphen hat er nicht gejagt
Rätselhaft: Adolf Muschg vergleicht den verstorbenen Verleger Siegfried Unseld mit dem griechischen Gott Pan
Richard Stoltz

Bei Buchhändlern und Altphilologen rätselt man darüber, was der Schriftsteller Adolf Muschg gemeint hat, als er letzten Samstag bei der Trauerfeier für den Verleger Siegfried Unseld schmerzbewegt ausrief: "Der große Pan ist tot." Denn Pan, der ziegenköpfige, unfruchtbare Gott des Feldrains und der Einöden, war in den Augen der Griechen ganz überwiegend ein Monster und eine Bedrohung. Er versetzte Herden und Hirten durch das Spiel seiner Flöte in Schrecken, den sogenannten "panischen" Schrecken, er jagte harmlose Nymphen, blieb aus dem Olymp ausgeschlossen, und der einzige Freund, den er hatte, war Daphnis, ein mit Impotenz geschlagener Hirtenjunge.

Wollte Muschg Unseld ausgerechnet mit Pan vergleichen? Aber warum? Man kann dem verstorbenen Frankfurter Verleger manches nachsagen, aber daß er Autoren und Lektoren planmäßig in panischen Schrecken versetzt hätte, würden nicht einmal seine Feinde zu behaupten wagen. Auch ist nicht bekannt, daß Unseld Nymphen jagte, und wenn doch, so wäre das seine Privatangelegenheit gewesen, die nichts auf einer Totenfeier zu suchen hat.

Einmal, ein einziges Mal, machte sich Pan übrigens bei Menschen, nämlich bei den Athenern, beliebt, als er ihnen half, die Schlacht von Marathon gegen die Perser zu gewinnen. Doch auch diese Großtat paßt wenig zu Unseld, der kein Schlachtenlenker, sondern eher ein Nachrichtenübermittler war, ein Funker wie jener Grieche, der sich zu Tode lief, um den Athenern die Siegesnachricht zu überbringen. Unseld benutzte zur Nachrichtenübermittlung glücklicherweise nicht die Beine, sondern seine Bücher.

Das Rätsel bleibt, es sei denn, man einigt sich darauf, daß Muschg den Pan mit irgendeiner Fruchtbarkeitsgottheit verwechselt hat, mit Demeter oder Persephone oder Aphrodite. Vielleicht hatte er schon Ulla Berkéwicz im Visier, die neue starke Frau von Suhrkamp und künftige Muschg-Verlegerin. Das wäre eine schöne Pointe.


 
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