© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
Nebelkerzen im Weihrauchkessel
Betstunde mit W. Thierse
Doris Neujahr

Mag sein, daß der mit Ach und Krach als Bundestagspräsident bestätigte Wolfgang Thierse das Gefühl hatte, die Auftritte der neuen Bundesregierung offenbarten ein geistiges Defizit. Zeit also für ein Wort zum Sonntag. Vergangene Woche hat er sich in einem Interview der Berliner Zeitung ausführlich geäußert. Zum Thema Zivilcourage.

Was für ein Betätigungsfeld! Hat Thierse - um Meldungen desselben Tages aufzugreifen - vielleicht die Kluft zwischen rot-grünen Wahlversprechen und Regierungserklärungen als sittenwidrig gebrandmarkt? Hat er mitfühlende Worte für das Dorf Horno gefunden, daß dem subventionierten Kohlewahnsinn, wie er von Clement und Stolpe vertreten wird, jetzt endgültig weichen muß? Hat er sich über die Meldung mokiert, daß Claudia Schiffer Werbung machen soll für eine 0190er-Nummer, um Geld für das Holcaustdenkmal einzuspielen? Oder hat er gar seine am 3. Oktober geäußerte Geschichtsdummheit korrigiert, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze habe gleich zwei Jahrhundertfragen, die deutsche und die polnische, "gelöst"?

Weit gefehlt. Thierse ist nun mal kein Mutiger, sondern ein Schleimer auf der Mehrheitsspur, der regelmäßig die Moraltrompete herausholt, um in den Sound der Medien einzustimmen. Dafür nennen diese ihn dann "Querdenker" und "moralische Instanz". Folglich sorgt Thierse sich, jeden Wirklichkeitsbezug meidend, wieder einmal darum, daß "Ausländerfeindlichkeit, autoritäre sowie antisemitische Einstellungen Teil des Alltagsbewußtseins vieler Menschen geworden" seien, daß der "Rechtsextremismus" ein "alltagskulturelles Phänomen" darstelle und "rechtsextremistische Aktivitäten" eine "soziale Einbettung" erführen. Er verlangt wieder einmal die "demokratische Initiative gegen Rechts".

Die "autoritären Einstellungen" betreffend, kann man dem Bundestagspräsidenten nur raten: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen! Thierse war in den siebziger Jahren Assistent des Berliner Philosophen und Kulturwissenschaftlers Wolfgang Heise. Dieser war einer der klügsten und freiesten Geister, die es in der DDR gab. Leider hat nichts davon auf seinen Assistenten abgefärbt. Thierse gleicht dem Streber, der die Hände gefaltet hält und dem Lob des Staatsbürgerkundelehrers entgegenfiebert: "Aber am schönsten hat uns wieder einmal unser Wolfgang die politische Lage erklärt!"

Auf Männer wie Thierse hat das Land gerade noch gewartet! Kanzler Schröder reitet das Land ins ökonomische Desaster, Außenminister Fischer holt inzwischen die Türkei und einen Haufen zusätzlicher Probleme in die EU, und der Bundestagspräsident steckt Nebelkerzen in den Weihrauchkessel und trippelt psalmodierend hinterdrein. Sein aufgeregter Weckruf an die Bürger ist in Wahrheit ein politisches "Ruhet sanft!".


 
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