© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
Widerspruch zum Untertanengeist
Stephan Leistenschneider untersucht das Phänomen der Auftragstaktik im preußisch-deutschen Militär
Franz Uhle-Wettler

Im Jahre 1950 bat der israelische Generalstab mehrere hundert Militärexperten aus vielen Ländern, Disziplin, Taktik, Tapferkeit, Organisation und dergleichen, kurzum den Kampfwert der Heere beider Weltkriege zu bewerten. Die deutschen Heere erhielten die besten Noten. Allgemein gilt der Kampfwert der deutschen Heere mindestens im Ausland weithin als Gegenstand des "envy of the world", des Neides der Welt, wie 1992 einer der führenden amerikanischen Militärhistoriker (Oberst Trevor Dupuy) urteilte.

Als Grund der deutschen Kampfwertüberlegenheit wird meist die Auftragstaktik angesehen. Wie der Verfasser der anzuzeigenden Studie einleitend darlegt, gibt es jedoch kaum Untersuchungen, was Auftragstaktik überhaupt ist, was sie von den Führungsverfahren anderer Armeen unterscheidet und was ihre Voraussetzungen sind. Diese offenkundige und wichtige Lücke engt die verdienstvolle Publikation wesentlich ein.

Die Zeit von 1806 bis 1871 wird vom Verfasser als "Vorgeschichte" der Auftragstaktik angesehen. Zu ihrem Beginn fochten die Heere noch in Kolonnen oder in langen, dreigliedrigen Linien ("Treffen"); das wies jedem Mann und sogar jedem Truppenteil seinen vorgeschriebenen Platz an und ließ der Eigeninitiative keinen Raum. Doch diese Starrheit wurde Schritt für Schritt abgebaut: Zuerst wurde das Heer in Divisionen, später in noch weit kleinere, aber zum selbständigen Gefecht befähigte Truppenteile aufgegliedert. Parallel hierzu brachten Gefechtsvorschriften den Übergang vom treffenweisen zum flügelweisen Einsatz und schließlich wurden aufgelöste Schützenschwärme die Gefechtsform der Infanterie. In dieser Entwicklung sieht der Verfasser zwei entscheidende Schritte: Die Gefechtsvorschriften (Exerzier-Reglements) von 1888 und, als krönender Abschluß, die Vorschrift von 1906.

Der Verfasser hat in vorbildlicher Weise die Vorschriften sowie als erster Autor die umfangreiche militärische Fachliteratur jener Jahrzehnte umfassend ausgewertet. So wird deutlich, wie in der Kaiserzeit jahrzehntelang mit bemerkenswerter geistiger Freiheit um fachliche Fragen gerungen wurde (die herausragende Fachzeitschrift der Bundeswehr hingegen heißt nicht umsonst Truppen-Praxis). Er schreibt frei von Modernismen in der Sprache Goethes und Stifters und scheut sich nicht klar, doch stets taktvoll zu urteilen.

Doch gerade weil die Untersuchung ungewöhnlich tief schürft, wirft sie auch Fragen auf. Kern der Auftragstaktik sind Soldaten aller Ebenen, die selbständig handeln - sich also angesichts neuer Lagen von überholten Aufträgen lösen, nur im Sinne der Absicht des Vorgesetzten und notfalls sogar entgegen einem veralteten Befehl zu handeln. Schon der Krieg 1870/ 71 zeigte gemäß dem Urteil zahlreicher ausländischer Beobachter bei der preußischen Armee auf allen Ebenen genau diese Selbständigkeit - zudem nicht nur im Krieg, sondern auch im Frieden. Folgten also die Vorschriften nur dem, was die Truppe längst selbständig geschaffen hatte und längst praktizierte? Ließ sich Selbständigkeit überhaupt befehlen, also durch Vorschriften 1888 und 1906 einführen? Vorschriften können selbständiges Handeln fördern und sanktionieren. Sie sind zweifellos wie ein Tor, das die Heeresführung sowie Gefechtsvorschriften schließen oder öffnen können. Aber ist damit schon gesichert, daß die Soldaten das Tor durchschreiten? Diese Fragen werden durch die spätere, vom Verfasser nicht mehr behandelte Entwicklung verstärkt. Gefechtsformationen und Truppengliederung der europäischen Heere unterschieden sich 1914 wenig - aber zahlreiche Zeugnisse belegen, daß die Selbständigkeit in der deutschen Armee weit ausgeprägter war als in anderen Heeren. Ludendorff hat die Auftragstaktik 1916/17 weiterentwickelt, der neuen Waffenwirkung angepaßt. Aber als die britische Armee auf der Basis erbeuteter Vorschriften die deutsche Taktik ihrerseits einführen wollte, scheiterte sie, dem Urteil britischer Autoren zufolge, kläglich. Überschätzt also der Autor die Bedeutung der Vorschriften und unterschätzt andere Faktoren?

Weit über die anzuzeigende Studie hinaus führt eine weitere Überlegung: Heutige Autoren sprechen viel vom deutschen Untertanengeist und Kadavergehorsam. Aber, nur als Beispiele: Sogar die australische amtliche Darstellung der Kämpfe um die türkischen Meerengen 1915/ 16 sieht als Ursache der schweren britischen Niederlage, daß die britischen Soldaten aller Ebenen untätig blieben und nur aktiv wurden, wenn ihnen Befehle erteilt wurden. Der britische Feldmarschall Lord Carver, Frontoffizier im Zweiten Weltkrieg, führt viele britische Niederlagen auf die gleiche Befehlswarterei und die deutsche Selbständigkeit zurück. Wie verträgt sich das mit der These vom deutschen Untertanengeist? Es ist kaum anzunehmen, daß geistige Unabhängigkeit sowie selbständiges Denken und Handeln nur auf die Soldaten beschränkt waren.

Die hier angezeigte wertvolle Studie, eine Diplomarbeit der Bundeswehr-Universität München, bricht 1914 ab. Mithin wird mancher Leser sie mit Dankbarkeit und zugleich mit dem Wunsch aus der Hand legen, daß der Verfasser Zeit und Abstand finden wird, sie bis in die heutige Zeit fortzuführen.

Stephan Leistenschneider: Auftragstaktik im preußisch-deutschen Heer 1871 bis 1914. Verlag Mittler & Sohn, Hamburg 2002, 179 Seiten, 19,90 Euro

Generalleutnant a.D. Dr. Franz Uhle-Wettler war Kommandeur der Nato-Verteidigungsakademie in Rom und ist heute freier Publizist. Sein letztes Buch "Der Krieg - in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft" erschien 2001.


 
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