© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    46/02 08. November 2002

 
Die Zukunft des Lebens
von Angelika Willig

Die "Lebenswissenschaften" sind in den letzten Jahrzehnten zum Leitstern im menschlichen Selbstverständnis geworden. Man definiert sich nicht mehr als Vernunftwesen oder gar als Gottesgeschöpf, sondern als Organismus. Biologie, Biochemie, Medizin und Psychologie sickern, wie einst die Sozialwissenschaften, vom akademischen Überbau ins Zentrum der Öffentlichkeit ein. Das Nachrichtenmagazin Focus setzt sich gegen den traditionelleren Spiegel dadurch ab, daß "weiche Themen" entschieden in den Vordergrund und häufig auch auf die Titelseite gerückt werden. Es soll ein verändertes Paradigma erscheinen.

Das gibt es aber noch nicht. Die Beschäftigung des Menschen mit seinem eigenen Körper und dessen Funktionen unterscheidet sich zwar vom Idealismus und Rationalismus vergangener Zeiten, nicht aber vom humanistischen Weltbild, nach dem der Mensch und seine Belange im Mittelpunkt stehen und Vorrang vor allem anderen haben. Der kranke, alternde und störungsanfällige Körper ist letztlich genauso egoistisch und räuberisch wie die idealen Heldengestalten, die uns gestern aufgetischt wurden. Die Besessenheit von Sex, Diäten, Anti-Age, Wellness und Psycho befreit nicht vom modernen Anthropozentrismus, sondern steigert ihn zu einer neuen Qualität. Die Fixierung ist nicht mehr auf das Idealbild des Menschen gerichtet, sondern auf seine traurige Realität. Kein Wunder, daß sich zunehmend Depressionen einstellen, die dann wieder im Focus besprochen und mit billigen Ratschlägen bedacht werden.

Eine einfache Überlegung könnte hier herausführen. Angestellt hat sie Edward O. Wilson in seinem gerade erschienenen Buch "Die Zukunft des Lebens". Während die "Lebensschutz"-Bewegung ganz selbstverständlich davon ausgeht, daß unter "Leben" menschliches Leben zu verstehen sei, nimmt der Soziobiologe Wilson das Leben als eine Einheit, in der jedes Glied seine Berechtigung hat. Von dieser Perspektive aus wird die eigene Sorge um das Idealgewicht oder das zurückweichende Kopfhaar deutlich relativiert. Denn während diese körperlichen Einbußen nur dem einzelnen Menschen drohen, sind viele Pflanzen- und Tierarten von der Zivilisation in eine winzige Nische zurückgedrängt worden oder bereits völlig ausgestorben: "Heute bevölkern mehr als sechs Milliarden Menschen die Erde. (...) Alle kämpfen darum, ihre Lebensqualität auf jede nur erdenkliche Weise zu verbessern. Dazu gehört leider auch die Ausbeutung der letzten natürlichen Lebensräume der Erde. Die Hälfte der riesigen tropischen Wälder ist bereits abgeholzt. Es gibt praktisch keine unerforschten Gebiete mehr auf der Erde. Die Pflanzen- und Tierarten verschwinden um mehr als das Hundertfache schneller als vor der Entstehung des Menschen. Die Hälfte der Arten wird möglicherweise bereits bis zum Ende des Jahrhunderts ausgerottet sein."

Wem diese Dramatik einleuchtet, hat fürderhin keine Zeit und kein Geld mehr für Schönheitschirurgen und Psychotherapeuten. Das Problem ist nur, daß dem Menschen seine Gleichstellung mit Algen oder Pantoffeltierchen nicht einleuchtet, nachdem es ihm historisch anerzogen und genetisch vermittelt wurde, die eigene Art grundsätzlich zu bevorzugen.

Es ist schwer, sich für Klima, Atmosphäre, Luft oder Wasser zu begeistern. Das sind trockene Themen. Daran liegt es wohl auch, wenn "grüne Anliegen" so rasch in die ubiquitären menschlichen Anliegen übergehen und sich gegen jene Umwelt richten, die man eigentlich schützen wollte. Die Partei der Grünen, einmal an der Macht, benutzt nicht nur die "Öko-Steuer" zum Ausstopfen von Rentenlöchern, sie bietet auch weltweit humanitäre Hilfe an, ohne diese an ökologische Verpflichtungen zu binden. Nach dem Motto "Menschheit, Menschheit, über alles" ordnen Grüne ihre Umweltdaten genau wie andere Politiker den neuesten Wirtschaftsdaten unter.

Wilson gehört nicht zu den Ökologen, die ihre Arbeit mit dem Hinweis auf mögliche Gefahren für den Menschen legitimieren müssen. Er stellt das Konzept einer "Umwelt" in Frage, die schon vom Begriff her auf den Menschen abzielt. Zunächst ist es allerdings richtig, daß der Mensch zur Natur in einem anderen Verhältnis steht als jedes andere Lebewesen. Der Mensch ist durch seine technischen Fähigkeiten heute in der Lage, die Erde völlig zu verwüsten. Damit sind wir nicht mehr der Natur ausgeliefert, sondern stehen ihr feindlich gegenüber. Die moderne Zivilisation ist als jahrhundertelanger Angriffskrieg zu verstehen, in dem der Mensch schließlich Sieger bleiben könnte. Wilson geht nicht davon aus, daß dies ein Pyrrhussieg sein und der Mensch an seinen Verheerungen selbst zugrunde gehen würde. Auch wenn die Ressourcen allmählich knapp werden, sind wir schlau genug, rechtzeitig neue zu erschließen. "Neunzig Prozent der Nahrungsmittel", stellt der Autor fest, "werden von kaum mehr als hundert Pflanzenarten erzeugt, obwohl mehr als eine Viertelmillion Arten bekannt sind. Die Hauptlast tragen ungefähr zwanzig Arten, von denen nur drei - Weizen, Mais und Reis - die Menschheit vor dem Verhungern bewahren." Es wäre also ein Szenarium denkbar, in dem die ganze Erde vom Menschengewimmel bedeckt ist und nur einige transgene Mais- und Reissorten neben humanoiden Schweinen als Organreservoir und Ratten als letztes nicht elektronisches Kinderspielzeug übriggeblieben sind. Warum nicht?, mögen manche sagen.

Ja, warum nicht? Weil für ein so einförmiges Biotop der Mensch erst selbst genetisch verändert und von einem Instinkt befreit werden müßte, den Wilson "Biophilie" nennt. Biophilie ist zunächst "ein Gefühl der genetischen Einheit und Verwandtschaft sowie das tiefe Bewußtsein einer gemeinsamen Geschichte. Diese Werte sind sozusagen die Mechanismen, die unser Überleben und das Überleben unserer Art sichern." Doch Biophilie ist noch mehr - ein Gefühl, über das nur der Mensch verfügt und das mit seiner fatalen Macht zusammenhängt. Nur der Mensch kann ein Wesen wie den Steinadler nahezu ausrotten, aber auch nur er ist in der Lage zu sehen und zu begreifen, daß dessen majestätischer Flug schön ist und ganz unabhängig von irgendeinem Nutzen erhalten bleiben muß. "Der Einfluß der biozentrischen Sichtweise", erklärt Wilson, "die sich auch in gleichsam religiösen Bewegungen wie der 'Tiefenökologie' oder 'Epic of Evolution' niederschlägt, wächst weltweit." Biophilie könnte also die zeitgemäße Form einer "Metaphysik als Naturanlage" sein, ein Bewußtsein vom Sinn über die eigene Existenz hinaus.

In der praktischen Arbeit mit Umweltorganisationen wie Conservation International, Wildlife Conversation Society oder World Wide Fund of Nature hat der berühmte Ameisenforscher erfahren, wie irrational Menschen auf Natur reagieren. Eine häufige Gleichgültigkeit weicht gegenüber "charismatischen Tieren" wie Panda, Elefanten oder Eisbären der spontanen Zuneigung. Zoologische Gärten ziehen in den USA mehr Menschen an als große Sportveranstaltungen. Natur spielt im Leben vieler Menschen eine größere Rolle, als es ihnen bewußt ist. Ginge die biologische Diversität verloren, würden zumindest seelische Defekte entstehen, von denen wir uns noch gar keine Vorstellungen machen. Und das ist einsichtig, da das menschliche Genom sich im Laufe seiner kulturellen Entwicklung kaum verändert hat und auf ein Leben in der Natur nach wie vor abgestellt ist.

Bisher weitgehend unbeachtet, bildet sich in der Umweltfrage eine neue Ethik heran, die sich von den philosophischen Schulmeinungen und Traditionen wesentlich unterscheidet. Wilson verfährt hier nur andeutend und fügt in der Fußnote eine ganze Anzahl von Buchtiteln überwiegend aus den Vereinigten Staaten an. Es läßt sich aber aus seiner Argumentation schon herauslesen, worum es dieser Bioethik geht. Es wird eine komplette Umwertung vorgenommen, so daß der Mensch aus seiner singulären Stellung heraustritt und sich in die Gemeinschaft des Lebens stellt und einordnet. Erst daraus entsteht die Notwendigkeit und Verpflichtung zum Schutz der Erde über Nützlichkeiten und Sentimentalitäten hinaus. Gleichzeitig bildet sich aber auch eine gefährliche Überlegenheit gegenüber "nur menschlichen" Interessen. Während die Politik durch universelle Gerechtigkeitsforderungen immer handlungsunfähiger wird, wächst hier eine Garde heran, die mit Entscheidungen keine Probleme hat. Die "Biodiversität" oder einfach "das Leben selber" tritt an die Stelle der göttlichen Autorität. Auf diese Weise könnte sogar der westliche Kulturkreis den Fundamentalisten aus aller Welt doch noch gewachsen sein.

Trotz aller Skepsis beurteilt der Wissenschaftler die bisherigen Erfolge des Umweltschutzes als ermutigend, ja hoffnungsvoll. "Die Regierungen (...) behandeln die Umwelt als ein öffentliches Gut, das ihnen nur zur treuhänderischen Bewahrung anvertraut wurde. Darüber hinaus sind sie in internationale Verträge eingebunden, die den globalen Schutz der Umwelt zum Ziel haben." Als Beispiele führt er die 1982 geschlossene Konvention der Vereinten Nationen über das Seerecht, das 1987 verabschiedete Protokoll von Montreal und die 1992 im Rahmen des Umweltgipfels von Rio geschlossene Konvention über die biologischen Vielfalt an. Zur Zeit findet in Chile die 12. Konferenz des Washingtoner Artenschutz-Übereinkommens statt. Doch wer ist es, der diese Dinge erkämpft hat? Nicht die Regierungen selber und nicht die Parteien, sondern die Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die im Umweltschutz eine "Vorreiterrolle" spielen. Und warum? Weil sie nicht auf die Zustimmung einer feigen und bequemen Masse angewiesen sind, denen alles gleich ist, wenn nur das Geld stimmt, und von denen die Wahlen abhängen. Noch mehr: Den elitären Vorstößen der NGO-Aktivisten gelingt es sogar, die Sympathie und Zustimmung derer zu erlangen, die sich programmatisch nicht auf ein Umweltanliegen einlassen würden. Die Bevölkerung wird in herausragenden Fällen vom Elan der Umwelt-Apo überrumpelt und mitgerissen. Die Spendenfreudigkeit ist größer, als jeder öffentliche Etat es sein könnte. Organisationen wie Greenpeace, um nur die bekannteste zu nennen, sind als eine Art ökologische Avantgarde akzeptiert, ohne jemals demokratisch legitimiert worden zu sein.

Die Stärke der NGOs liegt in einer heute einzigartigen Moralauffassung, die nicht konsensabhängig ist, sondern in einem Wert wurzelt, der die sozialen und humanitären Belange der Politik übersteigt.

Idealismus schließt ein taktisches und geschicktes Vorgehen nicht aus. Vor allem haben es die Artenschützer gelernt, Argumente der Wirtschaftlichkeit und des eigenen Vorteils gegenüber den betroffenen, meist armen Ländern ins Feld zu führen. Nicht nur den Tourismus als künftige Einnahmequelle, sondern zum Beispiel auch die Nutzung von Pflanzen als Arzneimittel bzw. deren Weiterentwicklung zu Medikamenten. Unter dem Begriff "Bioprospecting" werden die verbliebenen Urwälder von Abgesandten der Pharma-Unternehmen auf Heilpflanzen durchforscht, und zwar häufig erfolgreich. Noch immer sind die Schätze einer bereits halb zerstörten Natur nicht vollständig entdeckt. Wilson scheut nicht die Naivität, sein letztes Kapitel "Die Lösung" zu betiteln. Hier bekennt er sich deutlich zu der Ansicht, daß die Rettung der noch verbliebenen Naturvielfalt möglich ist. Allerdings "ein abgezäuntes und bewachtes Waldstück stellt einen grausamen Affront für die ausgesperrten hungrigen Menschen dar". Die Schreckensvision eines Kampfes auf Leben und Tod zwischen Menschenrechtlern und Naturschützern liegt also durchaus in seinem Vorstellungsbereich. Chancen rechnet er sich dabei für die letzteren nicht aus: Die Absperrung gegen Hungernde ließe sich "langfristig nicht aufrechterhalten". Aus diesem Grund setzen Naturschutzorganisationen wie World Wildlife Fund, The Nature Conservancy, National Wildlife Federation oder National Parks Conservation Association zunehmend auf Strategien, die einen möglichen Profit vor allem für die armen Ländern herausstellen. Sie müssen ein "Eigeninteresse an der Erhaltung der natürlichen Umwelt haben". Man müsse die "Regierungen, besonders in den Entwicklungsländern, davon überzeugen, daß mit Ökotourismus, Bioprospecting sowie mit dem Handeln von Emissionsrechten langfristig mehr Einnahmen zu erzielen sind als aus der Rodung und landwirtschaftlichen Nutzung derselben Landfläche".

Edward Wilson ist kein Naturgläubiger im konservativen Sinn. Wenn es nicht anders ginge, würde er sogar dem Klonen von Arten zustimmen, um deren Formenreichtum zu erhalten. Als Begründer der Soziobiologie geht er davon aus, daß auch unser ästhetisches Urteil evolutionsgenetische Ursachen hat: "Was wir im allgemeinen als Ästhetik bezeichnen, ist vielleicht nichts anderes als die angenehmen Empfindungen, die von bestimmten Reizen ausgelöst werden, an die unser Gehirn von Natur aus angepaßt ist." Entsprechend bedarf es keiner weiteren Rechtfertigung mehr, "wieso uns das Schicksal von Campephilus principalis, dem Elfenbeinspecht, kümmern soll". Kümmerte uns die Schönheit der Natur nicht, so wären auch menschliche Kunstwerke ohne Legitimation. Eine Menschheit, die sich über jede andere Form von Leben stellte, könnte auch sich selber nicht vertreten. Sie wäre tatsächlich nichts als eine reichlich langwierige "Hautkrankheit der Erde".

 

Angelika Willig, Jahrgang1963, studierte Philosophie und Klass. Philologie in Freiburg und München und lebt heute als Journalistin in Berlin.


 
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