© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002


Im Staub der Geschichte
Ohne einen Bezug zur Nation wird der Volkstrauertag gegenstandslos
Baal Müller

Der Volkstrauertag am 17. November wird, wie verschiedene Tage dieser Art, die uns diese düstere Jahreszeit beschert, mit einigen üblichen Ritualen, Kranzniederlegungen und Sonntagsreden begangen werden, die außer den unmittelbar Beteiligten zumeist nur wenige Menschen interessieren.

Dies liegt nicht nur an der Formelhaftigkeit und der leeren Phraseologie der meisten Reden, sondern auch und vor allem daran, daß eine solche Veranstaltung durchaus nicht mehr ins öffentliche Bild zu passen scheint: Erstens ist der Begriff "Volk" weitestgehend aus den Politikerreden verschwunden, und man spricht nur von der "Gesellschaft" oder behilft sich mit Wendungen wie "die Menschen in Deutschland", zweitens ist Trauer nichts, womit unsere Spaßgesellschaft viel anfangen kann, weshalb sie sie an gewisse, für entsprechende Rituale zuständige Funktionsträger delegiert, die turnusmäßig und ohne große Beteiligung der Bevölkerung ihre Pflicht ableisten, und drittens weiß man auch nicht so recht, wessen am Volkstrauertag eigentlich gedacht werden soll und darf - oder, wenn man zahllose Debatten der letzten Jahre verfolgt, eigentlich nicht mehr gedacht werden darf, war doch der Volkstrauertag ursprünglich den deutschen Gefallenen der beiden Weltkriege gewidmet.

Eingeführt durch den 1919 gegründeten "Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge" auf Vorschlag seines bayerischen Landesverbandes, wurde er zum ersten Mal 1922 mit einer offiziellen Feierstunde im Reichstag begangen, zu welcher der damalige Reichstagspräsident Paul Löbe eine vielbeachtete Rede hielt. 1934 wurde er zum Staatsfeiertag erklärt und in "Heldengedenktag" umbenannt; über die Art der massenwirksamen Inszenierungen unter Trägerschaft von Partei und Wehrmacht entschied der Reichspropagandaminister. Nach der Gründung der Bundesrepublik wurde der Gedenktag erneut als "Volkstrauertag" wiedereingeführt und 1950 erstmals mit einer Feierstunde im Deutschen Bundestag begangen. Anfänglich noch den Gefallenen gewidmet, erfolgte allmählich eine inhaltliche Umorientierung zugunsten eines allgemeinen Gedenkens der Opfer von Krieg und Nationalsozialismus, wie etwa die Rede des Bundestagspräsidenten Thierse zum Volkstrauertag 1999 deutlich machte, in der von den Opfern des Kommunismus freilich nicht die Rede ist, sondern lediglich vom zwanghaften Charakter des bei vergleichbaren Anlässen offiziell zelebrierten, staatlichen "Antifaschismus".

Wenn der Volkstrauertag aber ein Tag der generellen Erinnerung an die Opfer von Krieg, Gewalt, politischem Terror, sowie der Mahnung zur Bewahrung und Sicherung des Friedens ist, dann ist eine selektive Wahrnehmung, welche die Opfer von Sozialismus bzw. Kommunismus und von millionenfacher mörderischer Vertreibung ausklammert, nicht statthaft. Entweder man gedenkt aller und dann wirklich aller Opfer, soweit das bei solchen Anlässen möglich ist, oder man beschränkt sich im ursprünglichen Sinne der Gründer auf die deutschen Kriegstoten, wie es andere Ländern mit ihren Gefallenen auf eine selbstverständliche Weise machen, die aber in Deutschland auf absehbare Zeit zumindest in einem offiziellen Sinne kaum denkbar sein wird. Allzu widersprüchlich erscheint es, einerseits der gefallenen Wehrmachtssoldaten zu gedenken und diese andererseits pauschal zu Verbrechern oder zu Handlangern des Verbrechens zu stempeln, ohne den Widerstand, der gerade von der Wehrmacht gegen den Nationalsozialismus ausging, in einer adäquaten und die Verbrecherthese zurechtrückenden Weise zu thematisieren.

Unabhängig vom spezifisch deutschen Umgang mit der Vergangenheit bleibt das grundsätzliche Problem des heutigen Verhältnisses zu Tod und Trauer. Es ist offensichtlich, daß diese in einer auf Jugend, Schönheit, "Fitness", "Wellness", "Coolness" usw. fixierten Gesellschaft nicht "angesagt" sind und daß dieser Sachverhalt vielfältige Ursachen hat: vom allgemeinen Traditions-, Bildungs- und damit auch Vergangenheitsverlust und der daraus folgenden Orientierung an der jeweiligen Gegenwart und ihrer Mode bis hin zur demonstrativ zur Schau gestellten Jugendlichkeitsmaskerade und medialen Infantilität als Kompensation der demographischen Vergreisung.

Verfehlt wäre es jedoch, daraus nun gerade in unserem Lande abzuleiten, daß wir "lernen" müßten, "wieder mehr zu trauern", daß wir zur Trauer "unfähig seien", noch mehr Trauergedenktage bräuchten und womöglich eine neue "Trauerkultur" entwickeln sollten. Offiziell wird bei uns sehr viel getrauert, aber die staatlichen Trauerrituale gehen die Menschen nichts an, wenn sie nur abstrakt auf Krieg und Gewaltherrschaft bezogen bleiben und gleichzeitig bestritten wird, daß es sich für eine große Zahl von Opfern, nämlich die deutschen Gefallenen der Weltkriege, überhaupt zu trauern lohnt, weil diese vor allem Täter gewesen seien, die ihr Schicksal somit geradezu verdient hätten. Solange nur abstrakte institutionalisierte Trauer gefördert wird, konkrete und individuelle Trauer aber entsprechend problembehaftet ist, werden die Kranzniederlegungen und Sonntagsreden verdruckst und phrasenhaft bleiben. Man hält weiterhin ein paar verschwiemelte Reden, die ihrem Gegenstand nach sogar sehr pathetisch sein müßten, weil man ja für alles Böse überhaupt zu trauern vorgibt, und man muß doch jedes Pathos vermeiden, weil man fürchtet, daß an einem nationalen Totengedenktag sehr leicht einige unbeabsichtigte Konnotationen entstehen könnten. Es würde zuviel Wir-Gefühl entstehen, wenn uns einfiele, daß es unsere Toten sind, die wir betrauern; deshalb redet man lieber vom Tod überhaupt, was aber in einer völlig säkularisierten, todesvergessenen Gesellschaft auch nicht recht überzeugen kann.

Tod und Sterben sind schließlich aus unserem modernen Bewußtsein weitgehend gestrichen und werden nicht mehr als Teile und Aspekte des Lebens, sondern, sofern sie nicht völlig verdrängt sind, allenfalls als beklagenswerte, weil unsere Genußfähigkeit beendende, genetische Betriebsunfälle angesehen, die eines hoffentlich nicht mehr allzu fernen Tages womöglich vermeidbar sind. Vom Tod wollen wir nichts hören; davon zu reden überlassen wir den Pfarrern oder den Philosophen, die, wie Heidegger, vom "Dasein" als "Sein-zum-Tode" oder, wie Kierkegaard, von der "Krankheit zum Tode" geschrieben haben. Trauer hat deshalb einerseits keinen Platz in der Spaßgesellschaft und ist doch auf eine paradoxe Weise omnipräsent, da diese, insofern sie sich als Staatswesen versteht, bei uns in erster Linie auch eine Trauergemeinschaft ist, deren Trauer allerdings eher "von oben" als "von unten" kommt. Insgesamt müssen wir daher nicht mehr, sondern gelegentlich richtig trauern und danach wieder aufhören - um uns vielleicht wieder einmal zu freuen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen