© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002


Wegbereiter für Clowns und Jakobiner
Das Ende einer Epoche: Rudolf Augstein, der "Spiegel" und die vierte Gewalt
von Bernd Rabehl

Die Kommentatoren sind sich einig. Mit Rudolf Augstein sei eine Epoche dahingeschieden. Die mediale Öffentlichkeit konnte sich nicht als eine vierte Gewalt gegen Staat, Parteien und Justiz etablieren. Das Experiment, gegen den wachsenden Opportunismus der Politiker, gegen die Verstaatlichung der Parteien und gegen die "Einheitspartei" der politischen Macher die journalistische Kritik zu setzen, sei gescheitert.

Wer war nun Rudolf Augstein? Die Erlaubnis, ein Nachrichtenmagazin herauszugeben, bekam Augstein von den Engländern. Die englischen Offiziere hielten ihn für einen Juden, der überlebt hatte und der nun die Deutschen aufmischen würde. Er gehörte allerdings zu einer verschlissenen Generation, die als Siebzehnjährige eingesetzt wurden, für den vermeintlichen "Endsieg" zu fechten. Sie ließen ihr Leben für eine sinnlose Sache.

Für diese betrogene Jugend gab Augstein den Spiegel heraus. Er wollte sie aufrütteln und blieb Rufer in der Wüste, denn die Durchgekommenen mühten sich ab, die Normalität einer bürgerlichen Existenz zu erreichen. Augstein wußte wohl, daß die Demokratisierung der westlichen Teilrepublik noch lange unter der doppelten Besetzung leiden würde, unter der Okkupation der Vergangenheit als Angst und Schrecken und der Kontrolle durch die Besatzungsmächte.

Das politische Gepräge der Bundesrepublik sollte ihm recht geben. Eine Parteiendemokratie definierte sich in erster Linie über Staatskarrieren und Geheimdiplomatie. Die innerparteiliche Demokratie konnte so wenig verhindern wie die Stimmen der Wähler, daß die Rekrutierung und der Aufstieg der Politiker anderen, außerdemokratischen Gesetzen folgte. Die Parteispitzen oder Minister entschieden über Positionen, Karrieren und Pensionen und so wurden diese Institutionen sehr schnell durchzogen von Fraktionen, Klüngel und Cliquen. Das Kanzleramt wurde auf die Person von Konrad Adenauer zugeschnitten. Er war nun Chef von Staat und Partei, und alle folgenden Kanzler würden es ihm nachmachen.

Ohne eine kritische Öffentlichkeit wären kaum die politischen Realitäten offenbart worden. Augstein hatte sich die westlichen Nachrichtenmagazine in den USA und England zum Vorbild genommen, aber in Deutschland war kaum eine demokratische Tradition vorhanden, und die neuen Politiker bewegten sich im Sog der vergangenen Diktatur. Ein Nachrichtenmagazin sollte aufklären, Informationen geben, entlarven, Skandale anzetteln und zugleich die Leser erziehen. Die parlamentarische Opposition besaß kaum Informationen und Courage, und mit dem Tod von Kurt Schumacher fiel der Gegenspieler zu Adenauer weg. Der Spiegel mußte die Opposition aufrüsten, Bericht geben und die Geheimnisse und Hintergründe aufdecken.

Das war auch für Augstein zu viel. Leser als Käufer waren notwendig. Die Massenintelligenz an Schulen, Universitäten, Kultur und im öffentlichen Dienst mußten angesprochen und die heranwachsenden Generationen immer wieder neu für das Magazin gewonnen werden. Sie mußten sich in den Berichten wiedererkennen. Diese mußten ihrem geistigen Horizont entsprechen. Sie mußten durch Sensationen aufgerüttelt und angelockt werden.

So entstand der Spiegel -Jargon, eine Mischung aus Kritik, Zynismus, Besserwisserei und Spekulation. Alle Journalisten hatten sich diesem Stil zu unterwerfen. Schadenfreude war angesagt. Durchblick wurde angeboten. Der Eindruck wurde suggeriert, dabei zu sein. Spiegel -Lesen wurde zur Manie. Sie war so etwas wie die Sucht zur Distanzierung. Die vielen Halbgebildeten bildeten sich ein, nicht zur dummen Masse zu zählen. Der Spiegel war schon vor der Publikation von Bild die Bild-Zeitung der Pädagogen, Angestellten, Beamten, der Sozialpriester und Therapeuten. Trotzdem wurde der Spiegel zur "vierten Gewalt" je stärker die Politiker im Dunkel von Hinterzimmern und Verschleierung sich bewegten.

Die "neue Opposition" von 1968 wurde vom Spiegel als Befreiungsschlag wahrgenommen. Endlich wurden gegen die Wiedergeburt des 19. Jahrhunderts neue Akzente gesetzt. Endlich gab es Ansätze von Gleichzeitigkeit zwischen Mittel- und Westeuropa. Der Utopismus der Revolteure wurde belächelt wie bewundert. Ein Dutschke hätte schon 1945 auftreten müssen. Aber in den endsechziger Jahren war noch nichts verloren. Augstein sorgte dafür, daß Dutschkes Anliegen und die Auftritte der Clowns und Jakobiner über Interviews und Geschichten bundes- und weltweit verbreitet wurden. Er sorgte für die Öffentlichkeit der Provokationen und stellte die "Pannen" der Staatsgewalt heraus. Die Revolte sollte die Veränderung der Politik vorbereiten. Augstein wollte den eigenen Verlag verändern, eine Tageszeitung herausbringen und gegen den Springer-Konzern Front machen. Er setzte auf die Revolte, soweit sie neue Akzente setzte. Nur deshalb finanzierte er einzelne Aktionen der Akteure.

Der Radikalismus war ihm so weit willkommen, so weit in seinem Spektrum neue Ziele für die Politik angesprochen werden konnten: Demokratisierung, Toleranz, Offenheit. Die Deutschen waren für ihn zwar kein Kolonial- oder Vasallenvolk, was die Dutschkisten behaupteten, aber an die positiven Seiten von Nation zu erinnern, war ihm ein Anliegen. Wie konnte eine neue Ostpolitik geboren, an der deutschen Einheit festgehalten und auf Europa zugegangen werden, wenn nicht die produktiven Seiten der preußischen Reformen, der bürgerlichen Revolutionen und des Widerstands Bedeutung gewannen? Durch eine derartige nationale Identität konnten die Entgleisungen eines deutschen Chauvinismus und Rassismus benannt werden und konnte ein Volk Selbstbewußtsein haben, die eigene Zukunft zu gestalten.

Augstein nahm viele Impulse der Revolte in seinem Verlag auf. Er gab den jungen Journalisten Brot und Ziel, die davor an Flugblättern und Aufrufen geübt hatten. Spannungen wurden sichtbar zwischen der plakativen Abbildung von Wirklichkeit in den Berichten und den grundlegenden Recherchen. Der Jargon wurde immer wieder unterlaufen. Einzelne Artikel hatten Namen und Verantwortung. Der Verlag wurde 1974 dreigeteilt, 50 Prozent ging unter die Belegschaft und je 25 Prozent teilte Augstein sich mit dem Verlagshaus Gruner & Jahr. Augstein war interessiert, ins neue Mediengeschäft einzusteigen und gründete nach 1990 das Spiegel TV, das in der Analysequalität sehr schnell die privaten und öffentlich-rechtlichen Sender übertraf. Für drei Jahrzehnte wurde der Spiegel , wie gesagt, so etwas wie eine "vierte Gewalt", die die Zusammenhänge von Kanzlerwechsel, Rüstungsgeschäften, Parteienfinanzierung und Korruption aufdeckte. Der Aufstand der Bürger im Osten und der Zusammensturz der DDR-Diktatur fand Gesicht und Sprache im Spiegel .

1998 kam nun die Generation der Achtundsechziger an die Macht. Der lange Marsch durch die Institutionen hatte sie verändert. Es war eine Ochsentour gewesen. Sie hatten Jahrzehnte auf Privilegien und Aufstieg warten müssen. Fast hätten sie alles verloren und wären ins Nichts abgeglitten. Jetzt hieß es zupacken. Alle Utopien waren vergessen und wurden der Macht geopfert.

An die Stelle der Visionen trat ein dürrer Moralismus, der weder Gott noch Wahrheit kannte, weder Wissenschaft, Klasse, Volk und Nation. Moral ohne Ethik und die Ethik ohne Moral waren Markenzeichen der Ansprachen und Auftritte. Alles wurde der Macht zum Opfer dargebracht: Feminismus, Ökologie, Demokratie, Sozialismus, Gerechtigkeit, Rechtsstaat, Emanzipation.

Es blieben die nichtssagenden Gesten übrig, Phrasen, die schnell durch neue ersetzt wurden. Was interessierte das Geschwätz von gestern. Designer schufen parfümierte Gesichter, Entertainer gaben Schauspielunterricht und Wahrsager sagten wahr. Die Ex-Rebellen hatten Spaß daran, teure Anzüge oder Kostüme zu tragen, in Limousinen herumzukutschieren, mit Leibwächtern zu prahlen, Champagner zu schlürfen, schöne Frauen zu küssen und vor den Kameras zu kokettieren.

Adenauer hieß nun Schröder, und Kinkel hatte das Antlitz von Fischer. Das war noch einmal eine Parodie auf die fünfziger Jahre. Die Parteien der Macher wurden zu "Führerparteien". Nur treue Gefolgschaften waren gefragt, und die Alibifrauen waren ganze Männer. Was draußen noch schöner Auftritt war, wurde nach innen Geschrei und Befehl. Die Deutschen besaßen keine Elite mehr, sondern Selbstdarsteller, die immer stärker dem Kalkül der letzten Weltmacht folgten, hatten das Sagen.

Augstein war entsetzt. Hatte er früher immer mit der Opposition kooperiert und Informationen, zwar teuer bezahlt, aus dem Staatsapparat aufgenommen und dadurch für "Öffentlichkeit" gesorgt, so wäre jetzt ein Spiegel angesagt, der sein eigenes Klientel verhöhnen müßte. Ein neuer Anfang hatte sich in der Faszination von Macht aufgelöst. Die Konservativen folgten dem medialen Gehabe der Regierungsparteien. Die Inszenierung des Politischen ersetzte die demokratische Diskussion. Augstein hätte jetzt auch noch eine Partei gründen müssen, um das Zusammenspiel der vier Gewalten neu festzulegen.

 

Foto: Rudolf Augstein (r.) diskutiert mit Rudi Dutschke am 24. November 1967 im Audimax der Hamburger Universität: Die Opposition von 1968 wurde vom "Spiegel" als Befreiungsschlag wahrgenommen. Die Utopismus der Revolteure wurde gleichermaßen belächelt wie bewundert.

 

Prof. Dr. Bernd Rabehl war 1967/68 Mitglied im Bundesvorstand des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und einer der engsten Weggefährten von Rudi Dutschke. Seit 1973 lehrt er Soziologie an der Freien Universität Berlin.


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