© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002


Lichtblicke
Augsteins Essays zur deutschen Frage
von Wolfgang Venohr

Ich kannte Rudolf Augstein persönlich. Als ich in Hamburg als Chefredakteur von "Stern TV" tätig war, traf ich ihn hin und wieder bei Dr. Bucerius. "Ach", dachte ich dann, "da ist ja der kleine Rudi, der den großen Friedrich anpinkelt." Denn ich mokierte mich weislich über die Friedrich-Biographie, die Augstein 1968 veröffentlicht und in der er seinem kleinkarierten Preußen-Haß Zucker gegeben hatte.

Doch dann dachte ich zurück, an die fünfziger Jahre, als er unter dem Pseudonym "Jens Daniel" für uns junge Studenten ein Leuchtturm der Hoffnung gewesen war. Die Welt dröhnte damals vom Kalten Krieg zwischen West und Ost, und aus Bonn tönte unaufhörlich das Lied von der "Politik der Stärke". Wer warnend von der deutschen Einheit sprach, wurde von Bonn wie von Ost-Berlin gleichermaßen bekämpft, als gefährlicher Nationalist oder Neutralist verschrien. Der Kalte-Kriegs-Terror tobte in den Zeitungen, im Rundfunk, in den Universitäten. Da gab es nur einen einzigen Lichtblick: die Essays zur deutschen Frage, die Jens Daniel wöchentlich im Spiegel schrieb.

Wir lauerten förmlich auf den Montag. Am Montag erschien Der Spiegel, und dann stürzten wir uns auf die Artikel von Jens Daniel. Eine einzige Stimme der Vernunft in der Wüste des Ost-West-Gegeifers! Es war ja die Zeit der Stalin-Note (1952) und des 17. Juni (1953), in der wir klopfenden Herzens Chancen für die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes witterten. Wir klammerten uns an die Jens Daniel-Artikel, schnitten sie aus, reichten sie von Hand zu Hand. Ein deutscher Publizist hatte einen einsamen Kampf für die Nation geführt! Als alles vorbei war, die widersinnige Spaltung in Ost und West triumphierte, standen wir zusammen und starrten stumm auf den letzten Jens-Daniel-Artikel, in dem er ein "Lebewohl den Brüdern im Osten" zurief.

Das haben wir dem Rudolf Augstein nie vergessen. Und noch einmal, 1963, griff er zur Feder und resümierte im Spiegel am Ende der Adenauer-Ära all unsere Hoffnungen und Enttäuschungen, die uns aufgewühlt hatten, als er schrieb: "Im Europa von 1963 gäbe es keine Kriegsgefahr und keine Berliner Mauer, wenn es zwischen 1952 und 1955 gelungen wäre, um den Preis bewaffneter Neutralität alle vier Zonen mittels freier Wahlen zu vereinigen."

 

Dr. Wolfgang Venohr war Chefredakteur bei "Stern TV" und "Lübbe TV" und schrieb für verschiedene Zeitungen. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Berlin.


 
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