© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002


Östliche Visionen
Rudolf Augstein wußte, daß der Schlüssel zur Wiedervereinigung der Deutschen in Moskau lag
von Wolfgang Seiffert

Für den Spiegel schrieb ich schon, als ich noch in der DDR lebte, notwendigerweise nicht mit meinem richtigen Namen, sondern mit drei Sternchen, und im Politbüro der SED rätselte man damals, wer wohl dahinter steckte. Als ich 1978 in die Bundesrepublik zurückkehrte und die Verhältnisse mit meiner Zeit bis 1956 in der Bundesrepublik verglich, merkte ich rasch, daß die Dinge demokratischer geworden waren, als ich sie in den fünfzigerJahren als Chefredakteur der Zeitung Das junge Deutschland erlebt hatte. Allmählich erfuhr und begriff ich, daß dies dem Wirken von Rudolf Augstein und seinem Spiegel in hohem Maße zu verdanken war.

Noch deutlicher erfuhr ich dies bei der Vision Augsteins von einem einheitlichen Deutschland. Heute erinnert sich kaum noch jemand daran, daß in den achtziger Jahren nur wenige Politiker und Intellektuelle noch an eine Chance zur Wiedervereinigung glaubten. Doch im Spiegel konnten nicht nur Persönlichkeiten wie der Chef der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, offen für die Wiedervereinigung plädieren. Augstein selbst verlor dieses Ziel nie aus dem Auge und trat entschieden dafür ein.

Ich weiß nicht, ob es stimmt, was dieser Tage in deutschen Medien kolportiert wurde, nämlich, daß Augstein und Wolfgang Harich (der DDR-Philosoph und Ulbricht-Gegner) sich 1952 zu mitternächtlicher Stunde geschworen hätten, nicht zu ruhen, bis die Einheit Deutschlands wiederhergestellt sei. Fest aber steht, daß Augstein 1956 eben diesem Harich, als er nach Hamburg reiste, um den Sturz Ulbrichts vorzubereiten, gesagt hat: "Wenn Sie Sozialismus wollen, haben Sie doch keinen besseren Mann als Ulbricht." Augstein war eben nicht nur ein Visionär, sondern auch ein Mann mit klarem Urteilsvermögen. Als es darauf ankam, zögerte er keinen Augenblick, gegen Gegner der deutschen Vereinigung aufzutreten wie den Schweizer Philosophen Jaspers und den Schriftsteller Grass. Im Fernsehen griff er Günter Grass frontal an: "Der Zug ist schon abgefahren und Ihr seid nicht drin." Grass glaubte damals, die Entwicklung dürfte nicht weitergehen als bis zu einer Konföderation der beiden deutschen Staaten und nannte als Vorbild die Schweiz.

Als ich das hörte, habe ich Augstein sofort darauf hingewiesen, daß die Nennung der Schweiz völlig unzutreffend ist, weil diese zwar einmal eine Konföderation war, aber seit 1874 ein demokratischer Bundesstaat ist. Augstein teilte daraufhin mit: "Wir haben ihn (den Hinweis) an Günter Grass weitergegeben und dieser hat die entsprechende Passage in der Buchform des Gespräches geändert."

Augstein war, wie man sieht, bis ins Detail konsequent. Er war - als historisch denkender Mensch - sich immer bewußt, daß die Erreichung der deutschen Einheit in hohem Maße von der Entwicklung in Rußland (damals noch Sowjetunion) abhing.

Die Beobachtung und Analyse der Entwicklung in dieser Region der Welt war für ihn eine unerläßliche Aufgabe des Spiegel. Alle Generalsekretäre von Breschnew bis Gorbatschow hat Augstein getroffen. Kein sowjetischer Botschafter, der nicht beim Spiegel war. In den osteuropäischen Hauptstädten etablierte Augstein (mit manchen Schwierigkeiten) Auslandsbüros mit fähigen, kenntnisreichen Journalisten. Mit seinem Osteuroparedakteur Fritjof Meyer, der diese Funktion 36 Jahre ausübte, pflegte er einen intensiven Gedankenaustausch über die Entwicklung in Osteuropa. Meyer gehörte zu den ganz wenigen Mitarbeitern, mit denen sich Augstein duzte.

Doch auch Augstein selbst befaßte sich immer wieder mit der Geschichte, Literatur und Entwicklung Rußlands. Das letzte Mal traf ich ihn in Moskau, als ihm der Ehrendoktor des dem russischen Außenministerium zugeordneten "Instituts für internationale Beziehungen" verliehen wurde. Seine Rede galt Tschechow. Wegen seiner schlechten Augen ließ er sie von Jörg R. Mettke, dem Leiter des Moskauer Spiegel-Büros, verlesen, der dies in gewähltem Russisch tat. Augstein hat übrigens inzwischen an diesem Institut eine "Augsteinbibliothek" für die Studenten der journalistischen Fakultät gestiftet.

Augstein und Rußland - hier offenbart sich eine weitere Vision des Publizisten und Journalisten: Deutschland und Rußland sind aufeinander ausgerichtet, kraft Historie und Geographie. Diese Vision ist noch nicht erfüllt.

 

Prof. Dr. Wolfgang Seiffert war bis 1994 Direktor des Instituts für osteuropäisches Recht der Universität Kiel und lehrt jetzt am Zentrum für deutsches Recht der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau.


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