© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002

 
Im Schatzhaus der Geschichte
Dem gesamten deutschen Volk gewidmet: Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg feiert sein 150jähriges Bestehen
Wolfgang Saur

Der Kronschatz des Römischen Reiches Deutscher Nation wurde 1423 von Kaiser Sigismund "auf ewige Zeiten, unwiderruflich" der freien Reichsstadt Nürnberg übertragen, die ihn wie ihren Augapfel hütete. Diese Reichskleinodien, Inbegriff der sakralen Potenz des Reichs, mußten erst 1796 dem französischen Invasionsheer weichen und kamen so nach Wien. Das Ende folgte 1806: "Wenn der letzte römische Kaiser vom Throne steigt, so verkündet die Sage, beginnt die Herrschaft des Antichrist. Die Heiligtümer des Reiches, die das Volk Jahrhunderte hindurch mit mythischen Phantasien geschmückt hatte, gingen unter; aber unvergänglich schimmern sie aus der Tiefe durch die Wogen der Zeit" (R. Huch). In diese "lang verborgenen Tiefen der Vorzeit hinabzusteigen, um aufzusuchen des alten Reiches Herrlichkeit" ermahnte der genialische Sonderling Hans von Aufseß seine Mitarbeiter 50 Jahre danach. Er ist der Vater des Germanischen Nationalmuseums, das nun 150 Jahre alt ist.

Das Germanische Nationalmuseum in Nürnberg, "dem gesamten deutschen Volk gewidmet", "hat die Aufgabe, die Kenntnis der deutschen Geschichte zu verbreiten und zu vertiefen" (Satzung). Es ist das größte kulturhistorische Museum Deutschlands - als gewaltiger Komplex dem British Museum oder der Berliner Museumsinsel vergleichbar - und umfaßt 17 Fachabteilungen mit 1,2 Millionen Objekten aus allen Bereichen: Kleidung, Waffen, Musikinstrumente, bildende Künste, Handschriften, Möbel und vieles mehr. Etwa 20.000 Exponate werden in unzähligen Raumfluchten präsentiert, deren Durchwandern selbst schon eine architektonische Zeitreise von der Gotik (Kartäuserkloster) bis zur Postmoderne bedeutet. Wissenschaftlicher Arbeit dient die Bibliothek mit einem Bestand von 570.000 Bänden, darunter 3.800 Handschriften und 1.000 Inkunabeln. Dazu kommen Spezialarchive, Münzkabinett, Graphische Sammlung, Gewerbemuseum und ein eigener Verlag.

Die Vielfalt der Medien, Themenbereiche und Objektgruppen steht für die universalistische Orientierung seit Anbeginn: Das Museum sollte die ganze Fülle der Vergangenheit zur Anschauung bringen und im Ineinandergreifen verschiedener historischer Disziplinen eine Totaldokumentation anstreben. Dazu kam die mitteleuropäische Orientierung auf alle Deutschen, "ohne Rücksicht auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat".

Als prominenter Auftakt eines Rundgangs von der Frühzeit bis zu den bildnerischen Spielarten des Sozialistischen Realismus kann, noch ganz in römischer Tradition stehend, die ostgotische Adlerfibel (um 500) gelten, deren Figur die römische Staatsmacht, das Schildkreuz jedoch die neue Religion verherrlicht. Christliches Mittelalter erscheint versinnbildlicht im Evangeliar von Echternach (991). Dessen kostbarer Deckel zeigt die Kreuzigungsszene als Elfenbeinrelief von Goldplattfeldern eingefaßt, darauf die vier Paradiesesströme, Evangelistenembleme, Heilige und Stifter, von Edelsteinposamenten gerahmt. Somit schließt das theologische Bildprogramm Heilsgeschichte, Kosmologie und irdische Zeit zu einem Komplexsymbol des Glaubens zusammen. Wir wandern die langen Kreuzgänge hinunter, vorbei an kunstvoll ziselierten Grabplatten und dem plastischen Schmuck der alten Reichsstadt. Bei den wissenschaftlichen Instrumenten tritt man vor den ältesten Erdglobus Europas, den der Nürnberger Martin Behaim 1492 konstruierte, noch vor der Entdeckung Amerikas. Nebenan wird Albrecht Dürer (1471-1528) gewürdigt, der geniale Revolutionär in der deutschen Kunst der Renaissance. Zentralperspektive, Naturdarstellung, Auseinandersetzung mit dem menschlichen Körper und seinen Proportionen brachte Dürer aus Italien mit. Binnen eines Jahrhunderts ward dieser Humanismus aufgerieben: in Schisma, Reichszerfall, Religionskrieg. Die tiefe Verstörung darüber artikuliert sich in der Bildersprache des Manierismus mit seinem intellektuellen Raffinement und seinen formalen Exaltationen. Expressivität, Rätselhaftigkeit, Anspielungsreichtum und spirituelle Dynamik durchziehen die Bildwelt um 1600, vor Ort erlebbar in malerischen Meisterwerken der Prager Schule, den kostbaren Nürnberger Goldschmiedearbeiten, die in alle Welt geliefert wurden oder dem phantastischen Prunkbett der Familie Scheuerl mit seinen Greifen und Sphingen (1601).

Die folgenden 200 Jahre führten zum Niedergang Nürnbergs und seiner Bürgerkultur durch Kriegsmassierung, Pest, Aufstieg der fürstlichen Flächenstaaten und der überseeischen Orientierung des Handels.

Die Museumsidee ist eine Frucht des 19. Jahrhunderts, von Historismus und Romantik. Diese haben auch den Gründer in Nürnberg geprägt. Verlusterfahrungen stehen dabei am Anfang. Hans Freiherr von Aufseß (1801-1872) entstammte einem altfränkischen Rittergeschlecht, das 1806 seine Reichsunmittelbarkeit und Privilegien ebenso verlor wie die Stadt Nürnberg mit ihrer glanzvollen Vergangenheit.

Also aggregieren sich bei ihm biographisch typische Zeitmomente zum Projekt eines Nationalmuseums:

l Ab 1817 Student in Erlangen, ist Aufseß Burschenschaftler und teilt den nationalliberalen Wunsch nach einem gemeinsamen Nationalstaat. Die fehlende politische Einheit soll die Gemeinschaft der Kulturnation ersetzen.

l Die Romantik stimuliert das Interesse an der geschichtlichen Vergangenheit und verherrlicht das Mittelalter als deutsche Vorzeit.

l Nicht nur Geschichtspietät ist für ihn typisch, sondern auch die Sammelleidenschaft, das Registrieren und Katalogisieren in einem Zeitalter des kulturwissenschaftlichen Aufbruchs.

l In der Säkularisierung werden kostbarste Kulturgüter verramscht oder gar vernichtet. Inkunabeln zum Beispiel werden für Spottpreise auf Flohmärkten feilgeboten; wertvolle Handschriften rettet Aufseß vor ihrem Schicksal als Füllmaterial für Schlaglöcher und Urkunden zum Rohpapierpreis vor der Papiermühle. Er sammelt alles, dessen er nur habhaft werden kann: Handschriften, Musikinstrumente, Glasmalereien, Gemälde, Kupferstiche, alte Karten, Hausgerät, Münzen usf. Nach 30 Jahren besitzt er unter anderem 1.500 Urkunden, 690 Pergamentkodices und 2.364 historische Porträts.

l Dem Kulturkönigtum nach den Befreiungskriegen verdankt sich seine Unterstützung durch musische Fürsten. So ist es Johann von Sachsen, der 1852 nach Dresden eine Generalversammlung der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine einberuft.

Dort kommt es nun zur eigentlichen Museumsgründung. 1853 vom Deutschen Bund bestätigt, folgt im Jahr darauf die definitive Entscheidung für die Nürnberger Kartause, da sie "im Herzen Deutschlands" in "einer für die Kunde der Vorzeit so bedeutungsvollen Stadt gelegen, gewiß als würdiger Sitz ... der geschichtlichen Strebungen des deutschen Vaterlandes" gelten könne. Schon anfänglich steht die wissenschaftliche Bearbeitung im Vordergrund. Universal soll nicht nur der Objektbestand sein, sondern auch das erzeugte Wissen, denn Aufseß kommt es auf eine systematische Vernetzung an. Auf dieser Linie liegt sein Projekt des "Generalrepertoriums" aller erhaltenen und erschließbaren Kulturdokumente des deutschen Sprachraums - mit Hilfe heutiger Informationstechnologien ein nicht mehr so utopisch wirkender Plan.

Für ein Haus der Kulturgeschichte, das dem Besucher die lebendige Anschauung der Kulturnation bieten möchte, wirken manche der Fachabteilungen etwas steril. Die multimediale Integration vielfältiger Gegenstandsgruppen zu kulturhistorisch dichten Ensembles von ebenso hohem Erlebnis- wie Informationswert à la Wilhelm Bode, mußte in der Nachkriegsära einem museologischen Purismus homogener Schauräume und abstrakter Objektpräsentationen weichen, wird gegenwärtig jedoch wiederentdeckt. Die von den Verantwortlichen im Jubeljahr angekündigte Neugestaltung der Sammlungen weist in diese Richtung. Als eindrucksvolles Modell kann hierfür die eben neueröffnete Abteilung zur bürgerlichen Kunst und Kultur im 19. Jahrhundert gelten.

Bleibt die eigentliche Frage, worin das spezifisch "Deutsche" denn bestehe, das uns das Nationalmuseum vermitteln soll. Das läßt sich freilich schwer beantworten. Nicht nur reflektierte das mitteleuropäische Sammlungskonzept von jeher unsere vertrackte geographische und historische Lage. Hinzu kommt, daß der Verlust des deutschen Ansehens 1945 natürlich das Museum mitbetraf. Deshalb hat man in jüngster Zeit versucht, das Image von Stadt und Institution universalistisch aufzupeppen. So realisierte man im letzten Jahrzehnt eine bauplastisch eindrucksvolle "Straße der Menschenrechte" (1993) durch den israelischen Künstler Dani Karavan und verleiht seit 1995 den Internationalen Menschenrechtspreis.

Also muß der Besucher die Leitmotive einer deutschen Mentalitätsgeschichte selbst herausfiltern, etwa die Fernwirkung des griechischen Menschenbildes in der Plastik oder am Ende den "Mythos Nürnberg" selbst, der die Romantiker in ihrem Schaffen inspiriert hat bis hin zu Richard Wagners "Meistersingern" (1868), deren Originalpartitur heute im Nationalmuseum verwahrt wird.

Zum 100. Geburtstag des Museums 1952 sagte Theodor Heuss: "Indem wir die Größe alter Jahrhunderte beschwören und an den Geist der Männer denken, aus deren Gläubigkeit dies Werk der Deutschen für die Deutschen erwuchs, straffen wir das eigene Bewußtsein zur neuen Pflicht und dürfen das Erbe ... weitergeben denen, die uns folgen." Es gehe darum, so Walter Scheel 1982, "daß in unserer Jugend die Geschichte unserer Nation lebendig bleibt. Und diese beginnt nicht 1949, nicht 1871, sie ist ein Jahrtausend und älter".

Das könnte uns durchaus als ein tragfähiges Konzept kollektiver Erinnerung gelten. Im Germanischen Nationalmuseum kann es angeschaut, eingeübt und erprobt werden, von der ganzen Nation und für sie.

 

Foto: Blick in den Kreuzgang des ehemaligen Kartäuserklosters, der Keimzelle des Nationalmuseums: In die "lang verborgenen Tiefen der Vorzeit hinabzusteigen, um aufzusuchen des alten Reiches Herrlichkeit" und "Germania", Philipp Veit (1793-1877)

Germanisches Nationalmuseum, Kartäusergasse 1, 90402 Nürnberg. Tel. 09 11 / 13 31-0, Fax 09 11 / 13 31-200, E-Post: info@gnm.de , Internet: www.gnm.de 


 
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