© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    47/02 15. November 2002

 
Verursacher babylonischer Verwirrung
Viele gegenwärtige Probleme in der Krisenregion Nahost gehen auf die unglückliche Politik der Westmächte im 20. Jahrhundert zurück
Stefan Scheil

Es war das Ende einer Ära. Am 14. Juli 1958 brannten Aufständische in Bagdad die englische Botschaft nieder, nachdem zuvor der König gestürzt und der langjährige Regierungschef Nuri es-Said getötet worden waren. Nuri es-Said "war der großartigste Bettler, der mir je begegnet ist", urteilte der britische Botschafter später über ihn, und er fand in dieser Funktion keinen Nachfolger. Nach Jahrzehnten der Bettelei konzentrierte sich in der irakischen Bevölkerung statt dessen ein solcher Widerwille gegen alles Englische, daß nach dem Umsturz der zwischen der Türkei, dem Irak und England geschlossene Bagdad-Pakt gekündigt wurde und die letzten englischen Militärstützpunkte geräumt werden mußten. Zusammen mit dem katastrophalen Ausgang der französisch-englischen Militärintervention gegen die Verstaatlichung des Suezkanals durch Ägypten bedeutete dies das weitgehende Ende des englischen Einflusses im Nahen Osten.

Vierzig Jahre zuvor hatte alles vielversprechend begonnen. Nach dem Abschluß des Ersten Weltkriegs schienen sich der englischen Politik und ihren Verbündeten in der Region unbegrenzte Möglichkeiten zu bieten. Folgerichtig zeigten sich die imperialen Kriegsziele der Westmächte nirgendwo offener als hier. Bereits vor Kriegsbeginn war über die völlige Zerschlagung der türkischen Herrschaft nachgedacht worden. Seit 1915 existierte dann mit dem Sykes-Picot-Plan ein geheimes Abkommen, in dem die Einzelheiten der Übernahme des gesamten Nahen Ostens und auch großer Teile der heutigen Türkei durch England und Frankreich abgesprochen worden waren. Das hatte beide Länder nicht daran gehindert, ihren arabischen Verbündeten im Krieg gegenteilige, aber völlig haltlose Versprechungen zu machen, an die selbst der nicht informierte T. E. Lawrence (von Arabien) glaubte.

Nationale Selbstbestimmung spielte in Arabien keine Rolle

Der englische Gouverneur von Ägypten hatte vor diesem Hintergrund im Auftrag seiner Regierung gleich die ganze arabische Halbinsel an Hussein Ibn Ali versprochen, der damals Scherif von Mekka und zugleich der Chef des späteren jordanischen Königshauses war. Mit Ausnahme einiger Küstenstreifen sollten dazu noch Palästina sowie der Großteil von Syrien und des Irak gezählt werden. Als noch während des Krieges das Sykes-Picot-Abkommen durch die neue bolschewistische Regierung in Moskau öffentlich gemacht wurde, behauptete Außenminister Balfour schlicht und wahrheitswidrig, es sei eine Fälschung und konnte die Situation ein weiteres Mal retten. An anderer Stelle half Geld. So gelang es der englischen Diplomatie 1915, einen gewissen Ibn Saud zum Partner zu gewinnen. Die Unterstützung des späteren Gründers und Königs von Saudi-Arabien war zu diesem Zeitpunkt noch günstig zu haben. Mehr als Fünftausend Pfund monatlich mußte das Foreign Office nicht überweisen.

Nun stand 1918 nach einem nicht zuletzt wegen solcher Methoden gewonnenen Krieg nicht nur ein riesiges, seit mehreren Jahrhunderten unter der türkischen Oberhoheit vereintes Gebiet zur Verteilung an. Es schien der englischen Diplomatie auf der westlichen und nördlichen Seite des Halbmonds dabei auch zu gelingen, den ganzen östlichen Mittelmeerraum inklusive Syrien und der Türkei so zu verändern, daß nicht nur die bisherige Regionalmacht des Osmanischen Reiches zerschlagen und das vor allem als wirtschaftliche Größe in diesem Raum konkurrierende Deutsche Reich ausgeschaltet werden konnten. Als Folge der Oktoberrevolution schien auch noch die ständige Drohung einer weiteren Expansion Rußlands ins Mittelmeer ein für allemal beseitigt zu sein, die ein großes Thema der englischen Politik für ein Jahrhundert gewesen war. Zusätzlich gelang es, den bisher geteilten englisch-russischen Einfluß in Persien durch einen rein englischen zu ersetzen und nebenbei das Land zu zwingen, auf allen wichtigen Ebenen britische Verwaltungsbeamte einzusetzen.

Um dem selbständigen politischen Faktor Türkei ein Ende zu machen und ein Vordringen der Russen ein für allemal auszuschließen, setzte sich England nach dem von Gibraltar bis Singapur bewährtem Muster selbst an den Meerengen fest, lud neben Frankreich auch Griechenland und Italien ein, sich in Kleinasien zu bedienen und ging, um das Kartell abzurunden, sogar so weit, den Vereinigten Staaten ein Protektorat über Armenien anzubieten. Die Washingtoner Regierung lehnte allerdings dankend ab. Die USA hatten andere Ziele und arbeiteten zu diesem Zeitpunkt bereits daran, die alte Form des europäischen Imperialismus zu beerdigen, der hier nach dem Weltkrieg letztmalig triumphierte, auch wenn die Westmächte bereits gezwungen waren, die eigenen "imperialen Interessen hinter immer kunstvolleren Feigenblättern zu verstecken", wie A. J. P. Taylor einmal formuliert hat.

"Mandat" lautete das Zauberwort, das nach 1918 dieses Versteckspiel möglich machen sollte. Es gab solche Mandate in drei Abstufungen, zwei für die früheren deutschen Kolonien und eine dritte, die Stufe A, für die vorher türkisch regierten Gebiete in Syrien, Irak und Palästina. Gut fünftausend Jahre nach dem Beginn der überlieferten Geschichte in diesem Raum bekamen die dort lebenden Menschen nach dem Weltkrieg in der von den Westmächten verabschiedeten Völkerbundsatzung schriftlich bestätigt, sie hätten einen solchen Grad der Entwicklung erreicht, daß ihre Existenz als unabhängige Nationen anerkannt werden könne. Allerdings, so hieß es weiter, müßten sie noch für eine Weile die Unterstützung einer Mandatsmacht in Anspruch nehmen, bis sie sich wirklich selbst verwalten könnten. Wann dies sein könnte, wurde offengelassen.

Abgesehen von der heute kaum noch nachvollziehbaren Arroganz dieser Argumentation wies die Mandatsstruktur in allen Varianten auf einen Geburtsfehler der neuen Nachkriegsordnung hin, wie er nicht unähnlich auch im östlichen Mitteleuropa anzutreffen war. Wie dort hatten die Westmächte nicht die Absicht, die vorher laut proklamierten Ansprüche auf nationale Selbstbestimmung zu erfüllen, die in diesem Fall von den arabischen Verbündeten erhoben wurden. Darüber hinaus hatten sie im Nahen Osten aber auch keine Idee, wie ihre Ziele sonst ohne direkte Kolonialpolitik zu erreichen seien. Was hier als Anerkennung von Nationen daherkam, stellte tatsächlich eine Aufteilung einer bisher ungeteilten Einheit dar und wurde von der Mehrheit der Menschen in der Region auch genauso empfunden.

In diesen Krisenzeiten des Nahen Ostens nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zeigte sich zunächst die Geschichtswirksamkeit nationaler Identität, wenn sie auf eine ungebrochene staatliche Tradition zurückgreifen kann. Vor 1914 war von Europa aus eher der Islam als eigenständige politische Größe wahrgenommen worden, je nach Standpunkt und Selbstvertrauen als Bedrohung Europas oder als angeblich leicht manipulierbares Element eines machtpolitischen Konflikts. Am Ende proklamierten auch deshalb beide Seiten den Ersten Weltkrieg als Heiligen Krieg gegen den jeweils anderen. Faktisch nützte dieser Rückgriff auf die Religion jedoch niemandem wirklich. Daß der panislamistische Ruf unwirksam war, wurde schon im November 1914 deutlich, als die Proklamation des Djihad gegen die Westmächte im Namen des Kalifen ungehört verhallte. Die tatsächlichen Konfliktlinien liefen im Nahen Osten nicht entlang religiöser Glaubwürdigkeit, sondern entlang ethnischer, nationaler und monarchischer Interessen.

Die Türkei und Persien konnten sich emanzipieren

Daß hier die älteren Nationalismen künftig eine große Rolle spielen würden, zeigte sich nach 1918. Die mit den Westmächten verbündeten arabischen Dynastien konnten vor und während der Versailler Verhandlungen ausgespielt und manipuliert werden, wenn sie nicht überhaupt mit Nichtachtung gestraft wurden. Bei den zwei ausgeprägtesten Nationen der Region ließen sich diese Methoden nicht anwenden: der Türkei und Persien. Die vorgesehene Nachkriegsordnung wurde deshalb in diesen Ländern innerhalb von kurzer Zeit hinfällig.

Im Februar 1921 beförderte ein Staatsstreich von Resa Pahlawi in Persien eine nationalistische Regierung an die Macht. Innerhalb von vier Jahren brachte er es vom Soldaten zum Schah von Persien und schaltete parallel dazu den englischen Einfluß in seinem Land weitgehend aus. Dieser Vorgang wurde währenddessen in der Türkei von einer Explosion des türkischen Nationalismus begleitet, die alle Rechnungen der Westmächte zerstörte. Weder Italien noch Frankreich, England oder Griechenland konnten sich gegen den von Kemal Atatürk geleiteten Widerstand in irgendeinem Teil der Türkei behaupten. Was in Persien noch vergleichsweise harmlos stattfand, führte in Kleinasien zu einem förmlichen großen Krieg und einer militärischen Niederlage des Westens, so daß bis 1922 der westliche Einfluß in zwei wichtigen Staaten der Region drastisch zurückgegangen war. Statt sich in das ihnen zugedachte koloniale Schicksal zu fügen, begannen in der Türkei und Persien zwei moderne Nationalstaaten zu entstehen, die den Westmächten während des Zweiten Weltkriegs nicht unbedeutende Schwierigkeiten machen sollten.

Anders als der Irak, der im Mai 1941 bei einem erfolglosen Versuch, die englische Vorherrschaft abzuschütteln, gar den Aufstand auf seiten der Achsenmächte riskierte, taktierten allerdings beide vorsichtig und vermieden eine Parteinahme. Persien konnte es so zwar nicht verhindern, daß englische und sowjetische Truppen im Land einmarschierten und es für kurze Zeit erneut in Einflußzonen aufteilten. Es gelang aber, die neue Dynastie und den Kurs der Nationalisierung formal zu retten. Erfolgreicher war die Türkei. In der Region unvergleichlich wichtig, besser organisiert und vorsichtig, gelang es dem Land, sich schadlos durch den Zweiten Weltkrieg zu manövrieren, den 1939 mit den Westmächten geschlossenen militärischen Beistandspakt zu ignorieren und sogar noch einen kleinen Gewinn zu sichern: Der von Frankreich beim Abschluß des Pakts an die Türkei abgetretene Teil Syriens blieb türkisch.

Zwischen diesen beiden Ländern liegend, mußte der "fruchtbare Halbmond" des Nahen Ostens ein von ihnen deutlich anderes politisches Schicksal hinnehmen. Er war 1920 in San Remo in Mandate unterteilt worden, wobei es einen ausgedehnten Streit um das zwischenzeitlich entdeckte Öl gegeben hatte. Vor 1914 hatte man Ölvorkommen nur in Südpersien vermutet. Nun dehnte sich die Ölsuche bis weit nördlich von Bagdad aus und die Geologen waren überzeugt, daß im Norden noch weitere Funde zu machen seien, so daß Großbritannien alle Hebel in Bewegung setzte, um die Mandatsgrenze in diese Richtung vorzuschieben, bis in die heutigen Kurdengebiete des Irak, dessen jetzige Nordgrenze nicht zuletzt ein Produkt der neuesten Bodenfunde von 1920 ist.

Gleichzeitig mußte Hussein feststellen, daß die Briten in dem neu errichteten Mandat Palästina darangingen, die Grundlagen für einen jüdischen Staat zu schaffen. Schon während des Krieges hatte sich abgezeichnet, daß die englische Politik sogar über das Sykes-Picot-Abkommen noch hinausgehen und die dort angedachte internationale Verwaltung Palästinas selbst in die Hände nehmen wollte. Als ein wichtiger Schritt auf diesem Weg stellte sich die Unterstützung der Zionisten heraus, denen in der Balfour-Deklaration 1917 das Wohlwollen Englands gegenüber einem jüdischen Nationalheim versprochen wurde. Zum Dank dafür machte sich Chaim Weizmann für die Übernahme des dortigen Mandats durch England stark. Zwar mußten auch die Zionisten in den folgenden Jahren erkennen, daß sie nur eine Funktion im diplomatischen Spiel Englands darstellten und daß die britische Unterstützung für sie in Wahrheit sehr schwankend war. Dennoch reichte das englische Vorgehen aus, um das Verhältnis zu ihrem ehemaligen arabischen Verbündeten Hussein endgültig zu zerstören. Als Hussein die vereinbarte "politische und wirtschaftliche Freiheit für die palästinensischen Araber" nicht durchsetzen konnte, lehnte er 1922 jede weitere Zusammenarbeit ab.

Vereinigung der arabischen Staaten als latente Zielsetzung

Was in der Türkei und in Persien mit ihrer ungebrochenen staatlichen Tradition funktioniert hatte, der Rückgriff auf die Nation, hat im "Halbmond" nur dort erfolgreich stattgefunden, wo der westliche Einfluß in Form von Stützpunkten und Sonderrechten ein konkretes Feindbild lieferte. Der weitere Appell der Nationalbewegungen richtete sich dort aber an die "Arabische Nation" und damit gegen die Teilung des Nahen Ostens überhaupt. Als einziges dauerhaftes Produkt dieser kulturell und historisch begründeten arabischen Nationalidee hat sich jedoch ausgerechnet die 1945 noch auf englische Initiative gegründete Arabische Liga erwiesen. Es gab zahlreiche Versuche, die Teilung Arabiens durch Gründung von Unionen zu überwinden. In diese Reihe gehört die Syrisch-Ägyptische Vereinigung zur "Vereinigten Arabischen Republik", verbunden mit dem Plan einer Union der beiden Länder mit dem Irak. Das gelang nicht, sondern wurde statt dessen von dem damals noch monarchisch regierten Irak mit einer Annäherung an das von der gleichen Haschemitendynastie regierte Jordanien beantwortet, der sogenannten "Arabischen Föderation".

Alle Vereinigungspläne sind uneffektiv und instabil geblieben. Sie stellen aber weiterhin eine von vielen gehegte Vision dar. Noch heute symbolisiert etwa die Staatsflagge des Irak mit ihren drei Sternen auf grün-weiß-schwarz gestreiftem Grund zugleich den Arabischen Aufstand im Ersten Weltkrieg und den Wunsch nach einer Vereinigung der durch die Sterne symbolisierten Staaten. Der arabische Nationalismus ist eine politische Realität, die in der publizistischen Aufregung über den islamischen Fundamentalismus nicht selten vergessen oder gar mit ihm verwechselt wird. So wird der Nahe Osten weiterhin von den willkürlichen Entscheidungen nach 1918 geprägt. Sollte seine politische Vereinigung je auf die Tagesordnung kommen, wird einmal mehr eine neue Ära beginnen.

 

Foto: Einzug der britischen Truppen unter General Maude in das eroberte Bagdad am 11. März 1917: Die Mandatsmacht nach 1918 war die kaschierte Form des englischen und französischen Imperialismus


 
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