© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002


"Ich bin Legitimist"
Otto von Habsburg über die Krise des Westens und die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts
Carl Gustaf Ströhm

Kaiserliche Hoheit, wenn man wie Sie in diesen Tagen seinen 90. Geburtstag feiert, dann schaut man natürlich auch zurück. Ihre Lebensspanne erstreckt sich von der alten Monarchie bis zur modernen Massendemokratie. Wie beurteilen Sie die massendemokratische Entwicklung?

Habsburg: Was mich beunruhigt, ist die sogenannte totalitäre Versuchung. Die Demokratie hebt sich ab von den Wählern. Sie wird zwar immer perfekter - vom Standpunkt der Partei -, aber sie verliert den Kontakt zur Basis. Das Listenwahlrecht hat zwangsläufig als Konsequenz, daß die Kontakte verschwinden und die Politik teurer wird. Denn eine Wahl mit Listenwahlrecht ist wesentlich teurer als eine Persönlichkeitswahl. Ich habe Abgeordnete gekannt, in England, deren Wahlkampf 60 Pfund gekostet hat, weil sie einfach bekannt waren. 1995 habe ich übrigens erlebt, wie bei Diskussionsversammlungen junge Leute aufgestanden sind, übrigens nie alte Leute, und gesagt haben, die Demokratie sei korrupt, sie funktioniere nicht. Viel besser wäre es doch, wenn ein starker Mann oder eine starke Frau kommen würden, um Politik zu machen. Uns Älteren kann man das nicht erzählen. Wir haben unser Bedürfnis an starken Männern und Frauen restlos eingebüßt. Aber für die Jungen ist das eine Versuchung. Ein anderes Problem ist das Listenwahlrecht. Wenn man einmal auf der Liste ist, ist man sicher. Erinneren Sie sich an die französische Liste bei den Europawahlen, als Abgeordnete dann nicht wußten, ob sie für Nizza oder Bordeaux oder Brest gewählt worden sind? Wir deutschen Europaparlamentarier haben schon Schwierigkeiten gehabt, Kontakt zur Wählerschaft zu halten, aber wir haben immerhin noch gewußt, wir vertreten zum Beispiel Oberbayern.

Vergleicht man das politische Personal der Nachkriegszeit mit dem von heute, so stellt man fest, daß wir uns auf einem absteigenden Ast befinden. Teilen Sie diese Sicht?

Habsburg: Große Personen steigen nun mal in kritischen Zeiten auf. Kommen ruhige Zeiten, kommt die zweite, dritte, vierte Garnitur. Das ist auch deshalb verständlich, weil die Menschen gar nicht mehr das Bedürfnis haben, sich an großen Persönlichkeiten zu orientieren, wie das in kritischen Zeiten der Fall ist. Aber das hängt auch mit dem zuvor Gesagten zusammen - noch einmal das Beispiel Europaparlament: Seit 1999 haben wir dort keinen einzigen Abgeordneten mehr, an dessen Schuhen noch Erde klebt. Wir hatten vor 1999 noch 15 Bauern im Parlament, außerdem Arbeiter aus dem Bergwerk, größtenteils aus England, sie sind alle weg. Die hat Blair mit seiner "Revolution" sozusagen weggeputzt. Statt dessen haben wir heute vor allem Beamte und Lehrer im Parlament. Ich hatte in der ersten Legislaturperiode einen wirklich erstklassigen Kollegen, er war Handwerker, doch am Ende der Legislaturperiode vertraute er mir sein Problem an: "Mein Familienbetrieb funktioniert seit über 100 Jahren. Ich weiß aber, wenn ich mich jetzt wieder aufstellen lasse, wird der Vertrieb in der nächsten Periode kaputtgehen. Was ist nun meine Pflicht?" Ich mußte ihm antworten: "Gegenüber dem Betrieb."

Was halten Sie denn von der Monarchie in der heutigen Zeit?

Habsburg: Das Wichtigste ist das, was man die Substanz des Staates nennen könnte: also die Rechtssicherheit, die Rechtsordnung. Man hat mich des öfteren gefragt, ob ich eigentlich Republikaner oder Monarchist sei. Ich bin weder das eine noch das andere. Ich bin Legitimist. Der Legitimist ist derjenige, der für die legitim annehmbare Staatsform in jener Zeit eintritt, in der diese Staatsform existiert. Es wäre genauso absurd, eine monarchistische Bewegung in der Schweiz zu bilden, wie eine Republik in Spanien. Das würde gleichermaßen schaden. Man darf die Frage der Staatsform nicht überbewerten. Sie ist eine Form, die man verwenden kann, die sich nach den Bedingungen verändert und die jeweils in der Perspektive der Legitimität dem gegenwärtig Existierenden entspricht.

Neben der Krise des politischen Systems gibt es auch eine geistige Krise, eine Krise der Werte. Wie sehen Sie das?

Habsburg: Der Kern des Problems ist, wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt. Diese unglaubliche Welle an Kriminalität, die jetzt besteht, rührt nicht zuletzt daher, daß wir eine Krise der religiösen Werte haben. Bei uns traut man sich nicht einmal mehr von Gott zu reden. Ich war vor kurzem in Jordanien, es würde sich dort kein Politiker - ob Rechts, Links oder Mitte - trauen, eine Rede zu halten, ohne vorerst zu sagen: im Namen Gottes, des Allmächtigen und Barmherzigen. Noch in den Reden Bismarcks gibt es kaum einen Absatz, wo nicht entweder von Gott oder christlichen Werten die Rede ist. Heutzutage führen nicht einmal mehr die Politiker der Parteien mit dem großen C im Namen Gott im Munde. Bei uns diskutiert man sogar, daß das Mittagsläuten eingestellt werden müsse, wegen des Fremdenverkehrs. In moslemischen Ländern dagegen erschallt der Ruf des Muezzins schon um 5 Uhr früh.

Zur Außenpolitik: Wie schätzen Sie die Rolle Rußlands ein?

Habsburg: Ich halte Rußland für äußerst gefährlich. Man muß sich vergegenwärtigen, wer dort an der Macht ist: Wladimir Putin wurde mit 23 Jahren Mitglied des KGB. Natürlich kehrt der Kommunismus, wie er unter Stalin war, nicht wieder. Aber es kehrt der Nationalsozialismus, natürlich auch nicht wie unter Hitler, sondern der Putins wieder: Eine klare Politik der Expansion nach außen und der Schaffung eines scharfen autoritären Systems nach innen.

Halten Sie eine russische militärische Aktion außerhalb der eigenen Grenzen in näherer Zukunft für möglich?

Habsburg: Ich halte sie für nicht ausgeschlossen. In Brüssel gibt es im Rahmen der Nato jetzt eine russische Delegation mit hohen Offizieren. Während einer Diskussion hat uns ein russischer Vertreter erklärt, Rußland werde sich eines Tages die baltischen Staaten wieder zurückholen. Die ganze Aktion würde beim gegenwärtigen Kräfteverhältnis etwa sechs Tage dauern. Der Westen werde zwei Tage protestieren, dann werde er zwei Tage zur UNO laufen, wo alles zu Tode diskutiert wird. Und dann werde man sich mit der Situation abfinden.

Es fällt auf, daß der Westen vor zwei Jahren den Kampf der Tschetschenen, auch wenn er in den Methoden fragwürdig war, als Freiheitskampf einschätzte - nun aber nur noch von Terroristen spricht. Werden die Tschetschenen jetzt geopfert? Ist es Putin gelungen, sich durch den Kampf gegen die Tschetschenen in die westliche Anti-Terrorfront einzuschmuggeln?

Habsburg: Putins Haltung gegenüber den Tschetschenen ist zum großen Teil innenpolitisch bedingt. Der Haß gegen die Tschetschenen ist unter den Russen weit verbreitet. Putin will durch die Verschärfung des tschetschenischen Problems innenpolitische Zustimmung erreichen, Außerdem gibt es da noch den amerikanischen Krieg gegen den Terrorismus. Die Russen wollen jetzt mit den Amerikanern eine gemeinsame Plattform bilden. Wer immer die Kreise Putins stört, wird zum Terroristen ernannt.

Man hört jetzt aus den USA immer wieder von einer Kriegsoption gegen den Irak. Was halten Sie davon?

Habsburg: Die innere Struktur des Irak besteht aus drei Teilen: im Norden Kurdistan, im Süden sind die Sumpf-Araber und in der Mitte die Tigris-Araber. Die letzteren regieren heute den Irak. Also gibt es heute im Irak drei Nationen, zwei werden unterdrückt, und die dritte herrscht. Der Irak wird folglich nie von Dauer sein, irgendwann wird es eine Explosion geben, nur darf eine solche nicht falsch programmiert werden. Die Amerikaner wollen losschlagen und eine demokratische Regierung einsetzen, die wird aber aus lauter Gaunern bestehen!

Was sagen denn zum Beispiel die Jordanier angesichts der Perspektive, daß die USA den Irak angreifen wollen?

Habsburg: Die sind keineswegs begeistert, weil sie fürchten, daß das zu einem Flächenbrand führen wird. Saudi-Arabien, das ohnehin ein politisch labiler Staat ist, wäre sehr bedroht. Der Irak wird zerplatzen, die Amerikaner werden die irakischen Emigranten ins Land bringen, das sind aber lauter Kommunisten! Es gäbe eine Lösung, indem man Kurdistan wieder an die Türkei zurückgibt - unter Garantien für die Existenz der Kurden. Dann würde das Gleichgewicht im Nahen Osten ganz anders ausschauen.

Wieso gibt es bei den Amerikanern jetzt diese ungewohnten militanten Töne?

Habsburg: Wenn man die US-Innenpolitik betrachtet, dann ist sie in zwei Hälften gespalten: Auf der einen Seite das Verteidigungsministerium, in dem die Schlüsselpositionen mit Juden besetzt sind, das Pentagon ist heute eine jüdische Institution. Auf der anderen Seite, im State Department, sind die Schwarzen - zum Beispiel Colin Powell oder besonders Condoleezza Rice. Das ist eine innenpolitische Auseinandersetzung zwischen Falken und Tauben. Im Moment spielen dabei die Angelsachsen, also die weißen Amerikaner, eine relativ geringe Rolle.

Was treibt die Falken dazu, sich so militant kriegerisch zu gebärden?

Habsburg: Sie wollen um jeden Preis Israel schützen, und sie glauben, daß man das durch einen Schlag gegen den Irak erreichen kann.

Aber es gibt doch Stimmen, die warnen, daß man dadurch das genaue Gegenteil erreicht.

Habsburg: Ich fürchte das auch, aber so ist nun mal das ganze Konzept. Ich verstehe es sogar, weil die Israelis sich in einer sehr gefährlichen Situation befinden. Sie haben im ganzen nahöstlichen Raum keine Freunde. Sie haben nur die Unterstützung der Amerikaner, das ist alles. Der Irak ist wirklich eine mögliche Gefahr - zumindest sagen das die Amerikaner.

Nun wird Saddam Hussein von den USA in einen Topf mit den fundamentalistischen islamischen Terroristen geworfen.

Habsburg: Saddam Hussein ist ein aggressiver Säkularist, während die Fundamentalisten tiefreligiöse Leute sind, das ist eine ganz andere Welt.

Was machen wir, wenn plötzlich in Europa ähnliche Dinge geschehen wie die Terroranschläge auf Bali oder der 11. September 2001?

Habsburg: Jemand hat neulich sehr richtig gesagt: Der Terrorismus ist die Privatisierung des Krieges. Den klassischen Krieg gibt es nicht mehr. Es gibt nicht nur eine Privatisierung der Wirtschaft, sondern genauso der Strategie und Politik. Man spielt heute mit neuen Karten, wir haben uns darauf noch nicht eingestellt. Ich muß Ihnen sagen, daß die gegenwärtige Methode des Kampfes gegen den Terrorismus nichts ergeben wird. Man muß das Problem von einer ganz anderen Seite anpacken.

Was soll man konkret tun?

Habsburg: Was die Tschetschenen betrifft: Die Russen haben in Tschetschenien so fürchterliche Verbrechen begangen, daß ich eigentlich ein gewisses Verständnis für die Leute habe, wenn sie in ihrer Verzweiflung um sich schlagen.

Wie sehen Sie das im Falle des Palästina-Konfliktes?

Habsburg: Der einzige Mensch, der heute diese Situation in Ordnung bringen könnte, wäre Shimon Perez, er hat die Situation klar erkannt. Daß man mit einem Sharon keinen Frieden schließen kann, ist vollkommen klar. Außerdem hat Sharon ein Buch geschrieben, in dem er angekündigt hat, daß er die Araber alle ausrotten will. Das Furchtbare ist, daß eine grundlegende Tatsache nicht verstanden wird: Wenn man Frieden schließen will, muß man den Partner akzeptieren. Im Jahre 1946 kam ich nach Kairo, und dort meldete sich bei mir der damalige Großmufti von Jerusalem, der Freund Adolf Hitlers, zu einem Gespräch: Er sagte: "Ihr werdet einen Staat Israel schaffen, wir Araber werden versuchen, das zu verhindern. Wir werden dann einen ersten Krieg gegen Israel führen, den werden wir verlieren. Dann einen zweiten, den werden wir auch verlieren. Aber eines Tages werdet Ihr müde werden, und dann wird sich die große Wüste über Israel schließen." Das ist es, was diese Betonköpfe à la Sharon nicht verstehen. Israel befindet sich nicht in Luxemburg, sondern im Nahen Osten. Die Juden haben vergleichsweise wenige Kinder. Menschen, die wie ich ein großes Interesse daran haben, daß der Staat Israel gerettet wird, meinen, daß die einzige Möglichkeit darin besteht, Israel in den Nahen Osten zu integrieren.

Ist es nicht eine Tragödie, daß die USA dazu berufen sind, als Vermittler aufzutreten, dies aber nicht zustande bringen?

Habsburg: Das bringen sie wegen ihrer innenpolitischen Spannungen nicht zustande. Wenn Europa existieren würde und handlungsfähig wäre, könnte es diese Rolle übernehmen.

Damit sind wir beim Stichwort Europa: Wie kann oder soll der Kontinent in Zukunft aussehen. Wird es ein Staatenbund oder Bundesstaat?

Habsburg: Europa muß noch durch eine relativ lange Evolution hindurch. Man hat immer von Föderation oder Konföderation gesprochen. Wer die Geschichte kennt, der weiß - eine Föderation ist nichts anderes als eine geglückte Konföderation. Wir müssen also erst eine Konföderation schaffen, die erfolgreich ist. Nehmen Sie die Schweiz, die heißt heute noch "Confoederatio Helvetica", sie ist aber in Wirklichkeit eine echte Föderation geworden.

An welchen Zeitraum denken Sie da?

Habsburg: 150 oder 200 Jahre! Ich habe von Anfang an die These vertreten, Europa muß wachsen wie ein Baum und kann nicht hingestellt werden wie ein amerikanischer Wolkenkratzer.

Zuletzt: Was halten Sie von der viel beschworenen "Gefahr von Rechts"?

Habsburg: Es war immer schon so, in Deutschland hat man die Gefahr stets nur auf einer politischen Seite gesehen. Die Hysterie "gegen Rechts" ist doch systematisch durch die kontrollierten Massenmedien aufgebaut worden, und durch die Feigheit der Rechten, die sich nicht gewehrt haben, ermöglicht worden.

Was empfehlen Sie zu tun?

Habsburg: Man muß der schweigenden Mehrheit wieder Mut machen und selbst ein Beispiel geben.

 

Dr. Otto von Habsburg wurde 1912 als Sohn des späteren letzten österreichischen Kaisers Karl in Reichenau/Niederösterreich geboren. Von den Nationalsozialisten steckbrieflich gesucht, verhalf er zwischen 1938 und 1945 zahlreichen Menschen zur Flucht. Es gelang ihm durch Interventionen beim amerikanischen Präsidenten Roosevelt, eine Bombardierung Österreichs weitgehend zu verhindern. Seit Kriegsende setzt er sich für die Einigung Europas sowie die Befreiung Ost-europas vom Kommunismus ein. 1972 wurde er Präsident der 1922 gegründeten Paneuropa-Union, von 1979 bis 1999 vertrat er die CSU im Europäischen Parlament. Im August 1989 erwirkte er, zusammen mit einigen ungarischen Dissidenten, die zeitweilige Öffnung der ungarischen Grenze - Schlupfloch für zahlreiche Mitteldeutsche -, die den Fall der Mauer in Europa einleitete. Heute lebt er in Pöcking am Starnberger See. Am 20. November feierte er seinen 90. Geburtstag.

 

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