© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002


Thierse sorgt am Volkstrauertag für einen Eklat
Deutscher Bundestag: Der Parlamentspräsident beschädigt mit "Nazi"-Vorwürfen den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge
Dieter Stein / Moritz Schwarz

Zu einem handfesten Eklat wurden die Umstände der Gestaltung der diesjährigen Feier im Berliner Reichstag anläßlich des Volkstrauertages aus. Der 1919 gegründete Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VDK) richtet traditionsgemäß in eigener Regie die zentrale Feierstunde im deutschen Parlament aus, in deren Zentrum die Ehrung der in den Weltkriegen gefallenen deutschen Soldaten steht. 60 Jahre nach der berühmten Kesselschlacht an der Wolga sollte die Feierstunde dieses Jahr dem Thema Stalingrad gewidmet sein.

Wenige Tage vor der geplanten Veranstaltung drang durch eine Meldung des Spiegels an die Öffentlichkeit, daß Bundestagspräsident Wolfgang Thierse (SPD) die Teilnahme an der Veranstaltung davon abhängig mache, daß "keine Nazi-Texte verlesen werden" (JF 47/02).

Hintergrund: Der Volksbund hatte sich dafür entschieden, die 1998 uraufgeführte Symphonie "Letzte Briefe aus Stalingrad" des französischen Komponisten Aubert Lemeland durch das Musikkorps der Bundeswehr aufführen zu lassen. Bei der Symphonie handelt es sich um eine moderne Komposition in deren sechs Sätzen getragener Musik Textpassagen aus dem Buch "Letzte Briefe aus Stalingrad" verlesen werden. Unter Druck Thierses wurden die Texte in letzter Minute durch vergleichbare Soldatenbriefe aus einem Werk Walter Kempowskis ersetzt.

Nach Recherchen der JF hat alles mit einem Schreiben des Berliner Journalisten Jens Ebert begonnen, der derzeit die im Deutschlandfunk laufende Serie "Feldpostbriefe aus Stalingrad" betreut und der in Briefen, unter anderem an Bundestagspräsident Thierse, vor dem Werk Lemelands wegen Verwendung der "Letzten Briefe" gewarnt hatte. Daraufhin erhielt er ein Antwortschreiben, in dem der Bundestagspräsidnet noch zum Ausdruck brachte, für wie wichtig er die Veranstaltung wegen ihres Anti-Kriegs-Charakters halte. Der Spiegel berichtete dann aber überraschend, Thierse habe von "Nazi-Texten" gesprochen.

Der Komponist der Symphonie reagierte auf die Spiegel-Meldung empört, er sah sich, wie er in einer Erklärung bekanntgab, als Nazi-Propagandist verunglimpft und sagte daraufhin seine Teilnahme an der Feierstunde im Reichstag ab (siehe auch untenstehendes Interview). Gegenüber der JUNGEN FREIHEIT beteuerte der Spiegel, der 1948 bereits selbst einen Vorabdruck der "Letzten Briefen aus Stalingrad" abgedruckt hatte, lediglich die Worte des Bundestagspräsidenten wiedergegeben zu haben. Auch die Pressestelle des Deutschen Bundestages, bestätigte auf Nachfrage der JF die Richtigkeit des Thierse-Zitats.

Auch Jens Ebert beteuerte, zwar vor der Verwendung der Briefe gewarnt - übrigens im Herbst letzten Jahres auch gegenüber Lemeland selbst - und sich gegen die Aufführung der Symphonie ausgesprochen, doch keinesfalls die Briefe als "Nazi-Texte" tituliert zu haben. Er zeigte sich im Gespräch mit der JF inzwischen "verärgert über Herrn Thierse, zumal er mir etwas ganz anderes geschrieben hat, als er gegenüber dem Spiegel gesagt hat".

Wissenschaftlich ist die im Hause Thierse ausgebrütete pauschale Nazi-Klassifizierung der Briefe nicht beweisbar. Zwar waren 1943 sieben Säcke mit Feldpost aus dem Kessel von Stalingrad beschlagnahmt worden und nach eingehender Untersuchung einem Leutnant Schröter, Mitarbeiter des Propagandaministeriums, als Material zur Erstellung eines Heldenbuches über Stalingrad überlassen worden. Doch war das Ergebnis von Goebbels als ungeeignet empfunden und deshalb nie veröffentlicht worden.

Der Freiburger Militärhistoriker Gerd Überschär sieht auf Nachfrage der JF die "Letzten Briefe aus Stalingrad" aus wissenschaftlicher Sicht aber in dreifacher Weise manipuliert: Erstens durch die Auswahl der Briefe, zweitens durch Auslassungen in den Briefen und drittens durch stilistische Überarbeitung der Texte. Da zudem das Ausmaß der Manipulation unklar sei, seien die Briefe "nicht verifizierbar".

Ebert sieht in den Briefen den Geist des Kalten Krieges verkörpert: "Die Briefe weisen die ideologische Prägung der fünfziger Jahre" auf. Szenen wie die, in der ein deutscher Soldat, der auf einem Klavier aus einem Trümmerhaus auf dem Roten Platz von Stalingrad die "Apassionata" spielt, während im Hintergrund Maschinengewehre rattern - übrigens eine Szene aus dem Film "Hunde wollt ihr ewig leben", an dem Schröter auch mitarbeitete, - hält Ebert für frei erfunden.

Die Medienwissenschaftlerin Katrin Kilian, Leiterin des Berliner Feldpostarchivs der Humboldt-Universität, erinnert dagegen gegenüber der JF an die völlige Unklarheit, die in der Sache herrsche. Insofern erscheinen Eberts Vermutungen als möglich, aber den Grund der gesicherten Erkenntnis verlassend. Der VDK betont, das Stück schon 1999 in Wolgograd, im ehemaligen Stalingrad, vor russischen Publikum ohne den geringsten Protest aufgeführt zu haben. Gegenüber der JF erklärte VDK-Sprecher Friedmann Döring, der die Aufführung in Berlin koordiniert hat, daß man in Zukunft von weiteren Aufführungen der Symphonie wohl Abstand nehmen werde, da eine solche "jedesmal zu einer erneuten Diskussion führen wird, die dann in der NS-Ecke endet".

Der Franzose, der mit seiner Komposition zur Aussöhnung der Völker und zum Gedenken auch an das Leid der deutschen Soldaten beitragen wollte, ist vor allem ein Opfer der alarmistischen Wirkung des Signalwortes "Nazi-Text" geworden. Das Büro des Bundestagspräsidenten bleibt die Erklärung für seine eskalierende Wortwahl schuldig. Falls es eine Kampagne, wie von Lemeland spekuliert, gegeben haben sollte, so hätte sie ihr Ziel erreicht: Die Symphonie der deutschen Soldaten von Stalingrad scheint auf absehbare Zeit in Deutschland nicht mehr zu erklingen.


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