© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002

 
"De Zoch kütt!"
Anti-Castor-Proteste: Grüne Atomgegner und Bauern im Wendland fühlen sich verraten / Vehemenz der Proteste hat seit 1997 stark abgenommen
Peter Freitag

Es war einmal vor langer Zeit, da zog ein kühner Jung-Politiker mit seinen Gefolgsleuten aus, den Kampf einer Anti-Atom-Kommune gegen die übermäßige Staatsgewalt zu unterstützen. Am "Tiefbohrloch" im niedersächsischen Gorleben hatten Hunderte von Kernkraftgegnern im Frühjahr 1980 den Bauplatz für ein Atommüll-Zwischenlager besetzt und einen eigenen Staat ausgerufen, die legendäre "Freie Republik Wendland", die Ihren Bürgern sogar eine eigene Staatsangehörigkeit, den sogenannten "Wendenpaß" ausgestellt hatte. Nun drohte Ende Mai die Räumung der Hüttensiedlung durch ein riesiges Aufgebot von Polizei und Bundesgrenzschutz, so daß der besagte Politiker einen Bundeskongreß der Jungsozialisten in Hannover unterbrechen ließ und die Parole ausgab: "Wir fahren nach Gorleben!" Sein Name: Gerhard Schröder.

Der Fortgang der Geschichte ist bekannt, die "Freie Republik Wendland" wurde trotz der solidarischen Aktion des SPD-Nachwuchses dem Erdboden gleichgemacht, und aus dem einstigen Juso-Vorsitzenden wurde ein Bundeskanzler. Und als solcher ließ Gerhard Schröder vergangenen Donnerstag den bisher größten Castor-Transport ins Zwischenlager Gorleben einlaufen, begleitet von einem 16.700 Mann starken Polizeiaufgebot.

Die oberste Dienstaufsicht über den Transport der insgesamt zwölf "Casks for Storage and Transport of Radioactive material (CASTOR)", deren Namen an den gleichnamigen Dioskurenläufer angelehnt ist, hatte indessen das Bundesministerium für Umwelt- Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU). An dessen Spitze steht mit Minister Jürgen Trittin jemand, der sich beim Castor-Transport nach Gorleben 1997, der den bis dato teuersten Polizeieinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik nach sich zog, in seiner Funktion als Vorstandssprecher der Grünen noch ostentativ zu den Demonstranten und Schienenbesetzern gesellte und diese der Solidarität seiner Partei im Kampf gegen die damalige Bundesregierung und die mächtige Atomlobby versicherte. Daß sich die ortsansässigen Anti-Atom-Aktivisten, die zu Recht als Ahnen der grünen Bewegung gelten, angesichts solcher Konstellationen von der jetzigen rot-grünen Bundesregierung im Stich gelassen fühlen und Bündnis90/Den Grünen verärgert den Rücken zukehren, nimmt nicht weiter wunder.

Die von Trittin dialektisch formulierte Unterscheidung zwischen "bösen" (früheren) und "guten" (heutigen) Castor-Transporten wird hier nicht nachvollzogen. Denn die Bundesregierung hat sich im "Atomkonsens", durch den der Ausstieg aus der Kernenergie vertraglich am 14. Juni 2000 mit den Energieversorgungsunternehmen (EVU) beschlossen wurde, verpflichtet, noch bis 2005 Transporte von Atommüll deutscher Kraftwerke in die Wiederaufbereitungsanlagen La Hague und Sellafield zu gewährleisten. Daraus folgt, daß bis ins Jahr 2022 Rücktransporte nach Gorleben zur Entsorgung in Castor-Behältern notwendig sein werden.

Die Parteispitze der Grünen in Berlin sah dies schon damals als notwendigen Kompromiß an, der um des Hauptziels (Ausstieg aus der Kernenergie) willen einzugehen war. Spätestens zu diesem Zeitpunkt brach ihr im Wendland die Basis weg.

Dort befürchtete man, daß mit dem Transport ins Zwischenlager Gorleben, dieses doch zu einem Endlager für verbrauchte Brennstäbe werden könne. Denn auch im neuen Koalitionsvertrag zwischen SPD und Grünen vermutet man eine Hinhaltetaktik: Darin heißt es, daß eine Beteiligung der Energieversorger an den Kosten für Erkundungsarbeiten an anderen Standorten "angestrebt" werden solle. Lehnen dies die Unternehmen jedoch ab, so der Vorwurf der Bürgerinitiative Umweltschutz (BI) in Lüchow-Dannenberg, laufe alles auf einen Ausbau Gorlebens zum Endlager hinaus. Und mit jedem weiteren Castor-Transport schaffe die Atomlobby vollendete Tatsachen.

"Bodenständige, bürgerliche und hartarbeitende Leute"

So hat die Renitenz der Wendländer gegen die Atommüll-Transporte auch beim aktuellen Transport der zwölf Castor-Behälter keineswegs nachgelassen. Die Taktik der etwa tausend Demonstranten beinhaltete, die starken Polizeikräfte immer wieder an verschiedenen Orten zu binden. Dabei wurden Aktionen wie "Dorfneugründungen" und an Karnevalsriten angelehnte Umzüge ("De Zoch kütt!") veranstaltet. Doch auch Gleisbett- und Straßenbesetzungen gab es. Die Einsatzleitung der Polizei sprach von einem "deutlichen Kern von Gewalttätern innerhalb der Protestbewegung". Zeitweise wurden 700 Demonstranten eingekesselt, es kam zu 253 Freiheitsentziehungen, davon 21 Festnahmen. Die Bürgerinitiative sprach ihrerseits von einem Erfolg, unter anderem weil der Transport aufgrund der Proteste eine zehnstündige Verspätung hatte.

In der Tat findet sich im Wendland mit seinen typischen Rundlingsdörfern nicht nur das angereiste Demonstrationspublikum linker Couleur, sondern auch der eingesessene heimatverbundene Menschenschlag. Dazu gehört insbesondere die "Bäuerliche Notgemeinschaft", eine der ältesten Widerstandsbewegungen in Gorleben. In ihr sammeln sich seit 1977, dem Beginn des "Entsorgungsparks"unter Ministerpräsident Ernst Albrecht (CDU), die nach eigener Aussage "bis dahin eher konservativ eingestellten bäuerlichen Kreise", die nicht selten "aus sehr angesehenen und alteingesessenen Familien" stammen, wie beispielsweise die Mitbegründer Fritz und Undine von Blottnitz. Mit ihren Traktoren stellen sie sich den Transporten entgegen und wollen damit beweisen, daß der Widerstand hier aus "bodenständigen, bürgerlichen und hartarbeitenden Leuten besteht, die das Wendland als ihre Heimat sehen und die ihre Heimat schützen wollen".

Die Bauern (zwölf Prozent von ihnen bewirtschaften ökologisch), die sich auch wirtschaftlich durch das Atommüll-Lager betroffen sehen, da ihre Produkte qua Herkunft mit einem Makel behaftet seien, fühlen sich von den Grünen verraten, wie es in einer Stellungnahme heißt. Und andererseits sehen sie sich mit den zum Teil wirklich gewalttätigen Demonstranten zu Unrecht in einen Topf geworfen. In der Zwickmühle sind nun die niedersächsischen Grünen, gerade angesichts der kommenden Landtagswahl im Februar. Die Parteivorsitzende Heidi Tischmann und die Fraktionsvorsitzende Rebecca Harms forderten in Erklärungen ein Ende der Transporte nach Gorleben, da gegen das Einvernehmen der dortigen Bevölkerung eine Lagerung der Behälter nicht durchzusetzen sei.

Damit stellen sich beide gegen ihren ebenfalls aus Niedersachsen stammenden Parteifreund Trittin. In dessen Wahlkreis Göttingen, durch den der Castor-Transport auch in diesem Jahr führte, forderten die Grünen im Stadtrat ebenfalls ein Ende der Transporte, da die Behälter nicht sicher genug gegen Unfälle seien - "im Widerspruch" zu Meldungen aus Trittins Ministerium. Dort hieß es, aufgrund der sicherheitstechnischen und organisatorischen Standards sei nicht zu befürchten, "daß beim Transport Radioaktivität freigesetzt wird, auch nicht bei einem Unfall". Für Trittins grünen Kreisverband ergibt sich indes das Problem, daß große Teile des Göttinger "Anti-Atom-Plenums" politisch eine Heimat bei der PDS finden.

Augenscheinlich bewahrheitet sich der Verdacht der sich von den Grünen verraten fühlenden Kernkraftgegner, sie seien nicht wegen der ökologischen Ziele, sondern als Wählerpotential umworben gewesen. Als sich unter maßgeblichem Einfluß des Gorlebener Widerstands Anfang der achtziger Jahre die "Grüne Liste Umweltschutz" in Niedersachsen als Partei etablierte, war dem jungen Gerhard Schröder nur ein Argument ausschlaggebend genug für seinen Marsch in die "Freie Republik Wendland": "Wenn wir als Jusos da nicht mitmachen, dann laufen uns die Mitglieder weg!"


 
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