© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002

 
Kolumne
Besinnung
Klaus Motschmann

Ein Rundfunkkommentar zu den Hiobsbotschaften am "Schwarzen Mittwoch" (13.11.) schloß mit der resignierenden Feststellung, daß es "ohne ein Geschenk des Himmels" keinen Ausweg aus der gegenwärtigen Wirtschaftskrise geben werde. In einem anderen Kommentar hieß es ähnlich: "Jetzt hilft nur noch beten".

Nun wird wohl niemand diese Äußerungen wörtlich nehmen und als Indizien für einen allgemeinen Sinneswandel mißverstehen, so notwendig dieser auch wäre. Immerhin drücken sie in prägnanter Kürze das ganze Ausmaß der Ausweg- und Hilflosigkeit aus und wecken die Bereitschaft zum Nachdenken über einige einstmals selbstverständliche Grundsätze erfolgreicher Wirtschafts- und Finanzpolitik. Dazu gehören unter anderem die Überlegungen Alfred Müller-Armacks, einem der maßgebenden Väter der "Sozialen Marktwirtschaft", unmittelbar nach dem Kriege zum Wiederaufbau Deutschlands. Er warnte als Wirtschaftstheoretiker vor einer Fixierung auf rein wirtschaftliche Aspekte und vor einer Mißachtung der sogenannten soziokulturellen Grundvoraussetzungen wirtschaftlichen Handelns in Deutschland: "Unsere geschichtliche Tradition beruht auf einer dialektischen Entfaltung geistlicher und weltlicher Kulturformen; sie ist nie wie der Osten rein religiös bestimmt worden, aber bisher auch nie in der Logik einer nur weltlichen Kultur verlaufen. Das ist der rein äußerlich zu konstatierende Tatbestand. Es wäre ein Angriff auf die tiefsten Grundlagen unserer Lebensüberzeugung, wenn man den Versuch machte, diese Spannung aufzulösen. Jeder Verstoß gegen diesen Grundsatz ist dazu verurteilt, über kurz oder lang als Irrtum eingesehen und revidiert werden zu müssen". (In: "Das Jahrhundert ohne Gott", 1948, S.32). Der relativ rasche Wiederaufbau Deutschlands nach 1945 sollte deshalb auch nicht als ein "Wunder" erklärt werden, sondern als das Ergebnis der von Müller-Armack angemahnten Orientierung an der "geschichtlichen Tradition" und den "tiefsten Grundlagen unserer Lebensüberzeugungen". Davon kann (und soll!) nach 50 Jahren Reeducation und 30 Jahren Kulturrevolution keine Rede mehr sein.

Bis vor wenigen Jahren bot der Bußtag Anlaß für derartige Besinnungen, der dann aber zur Finanzierung der Pflegeversicherung abgeschafft wurde, übrigens noch zu CDU-Zeiten. Seitdem herrscht in Deutschland tatsächlich ganzjährige Bußtagsstimmung - nicht nur wegen der deutschen Schuld in der Vergangenheit, sondern auch wegen der Schulden in der Gegenwart.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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