© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002

 
Man könnte, wenn man wollte
Wirtschaftsgutachten: Sachverständigenrat schlägt zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum vor
Bernd-Thomas Ramb

Fatal ist die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage Deutschlands durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Schon im Vorwort des 734 Seiten umfassenden Berichts stellen die "fünf Wirtschaftsweisen" fest: "Die deutsche Volkswirtschaft wies in den Jahren 2000 bis 2002 jeweils die niedrigsten Zuwachsraten des realen Bruttoinlandsprodukts unter den Ländern des Euro-Raums auf. Auch im Durchschnitt der neunziger Jahre lag die Zuwachsrate des Bruttoinlandsprodukts je Einwohner in Deutschland erheblich unter der des Euro-Raums (ohne Deutschland). Dies wird sich im kommenden Jahr nicht ändern. Deutschland leidet seit Jahren unter einer ausgeprägten Wachstumsschwäche."

Das Kernproblem sehen die Wirtschaftswissenschaftler in der verfehlten Arbeitsmarktpolitik und fordern in ihrem 20-Punkte-Programm insbesondere eine Reform des Arbeitsmarktes, "denn die derzeitige institutionelle Ausgestaltung ist mit verantwortlich für die desolate Arbeitsmarktlage." Mit der anschließenden Anmerkung "Die Vorschläge der Hartz-Kommission hält der Sachverständigenrat nicht für ausreichend" vervollständigt sich die höflich verbrämte Doppelohrfeige für die Bundesregierung.

Eine Lösung sehen die Sachverständigen in einer Strategie, die an den Ursachen ansetzt: "Sie muß bessere Voraussetzungen für die Stärkung der Nachfrage nach Arbeit schaffen, eine größere Arbeitsmarktflexibilität herstellen sowie die Anspruchslöhne senken und gleichzeitig den Niedriglohnbereich ausbauen." Für den Niedriglohnbereich empfiehlt der Sachverständigenrat eine grundlegende Neugestaltung der Lohnersatzleistungen und der Sozialhilfe, "um die Attraktivität einer Beschäftigung für Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu erhöhen". Dabei sollen im Gegensatz zu den bestehenden Reformvorhaben der Regierung die "Anspruchslöhne" deutlich gesenkt werden. Bei den Sozialversicherungen setzt der Sachverständigenrat den Schwerpunkt des Reformbedarfs bei der Gesundheitspolitik. Neben einer Steigerung der Effizienz des bestehenden Systems fordern die Wirtschaftsweisen zwei konzeptionelle Reformstrategien. Dagegen halten sie wenig von "diskretionären Ausweitungen der Beitragsgrundlage zur dringend nötigen Dämpfung der Beitragssatzentwicklung". Die Effizienzsteigerung erhoffen sich die Gutachter von "ausgabenseitigen Reformen, die insbesondere an den kostensteigernden Fehlanreizen im Patienten-Arzt-Verhältnis, an einer neuen Rollenzuweisung für die Gesetzliche Krankenversicherung und die Private Krankenversicherung und an einer freieren Vertragsgestaltung der Krankenkassen mit den Leistungsanbietern ansetzen." Letzteres sieht insbesondere die Freigabe von Altersreserven vor, die von den privaten Krankenkassen für die einzelnen Versicherten angesammelt und bislang bei einem Versicherungswechsel einkassiert werden. Bei den konzeptionellen Änderungsvorschlägen steht die weitere Abkehr von Umlageverfahren zur Finanzierung der Sozialversicherungen im Vordergrund.

Ähnlich wie bei der Rentenversicherung sehen die Sachverständigen auch bei der Krankenversicherung im bestehenden Finanzierungsverfahren keine Zukunft. Vor allem wird das Problem bei der lohnabhängigen Beitragsbemessung gesehen. Statt dessen soll ein Pro-Kopf-Beitrag erhoben werden, der dem persönlichen Kostenrisiko gerechter wird. Fehlendes Einkommen zur Bezahlung der Pro-Kopf-Pauschalen soll durch eine Reform der Lohn- und Einkommenssteuer sowie durch eine Anhebung von Staatszuschüssen (Kindergeld, Beihilfen usw.) ausgeglichen werden.

Dem eigentlichen Knackpunkt der desolaten Staatsfinanzen, dem explodierenden Budget der Sozialleistungen, widmen die Wirtschaftsweisen nur teilweise ihre Aufmerksamkeit. Zwar werden vehement die Überführung der Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe und vor allem die einheitliche Befristung des Arbeitslosengeldes auf zwölf Monate gefordert, das Problem ist damit jedoch nicht vollständig erfaßt. Insbesondere zwei Punkte, die im internationalen Vergleich wie selbstverständlich diskutabel sind, bleiben unberücksichtigt: Die Begrenzung der Bezugsdauer der Sozialhilfe und die Sozialhilfe für Nichtdeutsche.

Eine völlige Beendigung der Sozialhilfezahlungen wird in den meisten Fällen unmöglich sein, wenn die Existenz nicht gefährdet werden soll. Andere Länder sehen dies anders, nach den christlich-abendländischen Wertvorstellungen, die zumindest bei der deutschen Bevölkerung latent vorhanden sind, verbietet sich jedoch diese Sichtweise für Deutschland. Andererseits kann die Differenz zwischen Sozialhilfeleistungen, die das tatsächliche Existenzminimum absichern, und den Zahlungen, die nach heutigem Verständnis für den Lebensunterhalt eines Sozialhilfeempfängers als notwendig erachtet werden, nicht von vornherein gleich Null gesetzt werden.

Insbesondere wurde bislang nicht untersucht, ob eine kontinuierliche Leistungskürzung mit zunehmender Bezugsdauer möglich ist. Das Thema Sozialhilfe für Nichtdeutsche ist noch mehr ein Tabu. Dabei wird die Statistik, wenn auch auf der letzten Seite des Gutachtens, nicht verschwiegen. Laufende Hilfe zum Lebensunterhalt erhielten im letzten Jahr 2,1 Millionen Empfänger. Davon waren 603.000 - also mehr als ein Viertel - Nichtdeutsche. Dafür entstanden Ausgaben von fast drei Milliarden Euro, über die zu diskutieren die political correctness verbietet.

Insgesamt beläßt es der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten bei einer letztlich moderaten Politikschelte, wenn sie auch heftiger ausfällt als in den vergangenen Jahren. Ob er allerdings mit seinen Vorschlägen jetzt Gehör findet, muß angesichts der jahrzehntelangen negativen Erfahrungen mit der mangelhaften politischen Aufnahmebereitschaft seitens aller regierungsbestimmenden Parteien bezweifelt werden.


 
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