© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    48/02 22. November 2002

 
Sag mir, wo die Kinder sind
von Patrick J. Buchanan

Warum bringen die Nationen und Völker Europas keine Kinder mehr zur Welt, warum nehmen sie ihr Verschwinden von der Erde anscheinend mit derartiger Gleichgültigkeit hin? Haben die Wunden der Kriege oder das Ende der Kolonialreiche ihren Lebenswillen absterben lassen? Alles deutet darauf hin, daß dies nicht der Fall ist.

Das deutsche Kaiserreich wurde im Ersten Weltkrieg besiegt, verlor seine Schutzgebiete und mußte große territoriale Verluste hinnehmen. Zwei Millionen Deutsche fielen im Kampf, und weitere Millionen waren verkrüppelt. Doch wuchs Deutschlands Bevölkerung nach 1919 so rasch, daß Frankreich, das zu den Siegermächten zählte, höchst alarmiert war. Nach dem Zweiten Weltkrieg zählten die geschlagenen Japaner und Deutschen ebenso zu den Babyboomern wie die siegreichen Amerikaner. Betrachten wir die Geburtenstatistiken, so entdecken wir, daß in der Mitte der sechziger Jahre ein folgenschwerer Wandel eintrat. Damals, inmitten des Nachkriegswoh_Ø"tands, geschah etwas, das die Herzen und Hirne der westlichen Frauen veränderte und in ihnen den Wunsch erlöschen ließ, so zu leben wie ihre Mütter. Nun mag der Grund dafür, daß die westlichen Frauen keine Kinder mehr bekamen, umstritten sein; klar ist hingegen, wie sie diese Absicht verwirklichten. Empfängnisverhütungsmittel beendeten den Bevölkerungszuwachs des Westens, wobei die Abtreibung zur zweiten Abwehrlinie gegen das unerwünschte Kind wurde. (...)

Historiker werden die "Anti-Baby-Pille" dereinst vielleicht als die Todespille des Abendlandes bezeichnen. Sie wurde erstmals im Jahre 1960 zugelassen. 1963 wurde Dr. Rocks Erfindung von sechs Prozent der amerikanischen Frauen benutzt, 1970 bereits von 43 Prozent. Während Katholiken hitzig über die Ethik der Empfängnisverhütung diskutierten und Papst Paul VI. seine Enzyklika Humanae Vitae erließ, die alle künstlichen Formen der Geburtenkontrolle einschließlich der Pille als unmoralisch verwarf, rückte unvermittelt ein noch schwerwiegenderes Problem ins Rampenlicht.

Sherry Finkbine, Fernsehstar aus Arizona und verheiratete Mutter von vier Kindern, die Thalidomid eingenommen hatte - eine Arznei, die in Europa zu Mißbildungen bei Kindern geführt hatte -, erfuhr, daß sie schwanger war. Sie wollte kein mißgestaltetes Kind und vertraute Freunden an, daß sie eine Abtreibung wünschte. Als diese Nachricht ruchbar wurde, sah sich Frau Finkbine allerlei Drohungen ausgesetzt, während andere ihr anboten, ihr Kind aufzuziehen, wenn sie es zur Welt bringe. Da Abtreibung damals noch illegal war, folgte eine hitzige, landesweite Debatte. Frau Finkbine flog schließlich nach Schweden und trieb ihre Leibesfrucht dort ab.

1966 war der Fall Finkbine bereits Geschichte, und es wurden alljährlich 6.000 Abtreibungen durchgeführt. Bis 1970 war diese Zahl auf 200.000 hochgeschnellt, und zwei Gouverneure, Rockefeller von New York und Reagan von Kalifornien, unterzeichneten die liberalsten Abtreibungsgesetze der Vereinigten Staaten. 1973 gab es bereits 600.000 Abtreibungen. In jenem Jahre beschloß der amerikanische Oberste Gerichtshof mit den Stimmen dreier der vier von Präsident Nixon ernannten Richter, das Recht einer Frau auf Abtreibung sei durch die Verfassung geschützt. Innerhalb eines Jahrzehntes stieg die Zahl der Schwangerschaftsunterbrechungen auf alljährlich 1,5 Millionen, und die Abtreibung hatte in Amerika inzwischen die Mandeloperation als häufigsten chirurgischen Eingriff ersetzt. Seit dem Entscheid Richter Blackmuns sind in den USA 40 Millionen Kinder abgetrieben worden. Heutzutage enden 30 Prozent aller Schwangerschaften auf dem Tisch einer Abtreibungsklinik.

Im Jahre 2000 billigte die Lebensmittel- und Medikamenteverwaltung die Einführung der RU-486, einer Abtreibungspille, die die Frau während der ersten sieben Schwangerschaftswochen ohne ärztliche Hilfe selbst einnehmen kann. Da keine US-Firma mit dieser Pille in Verbindung gebracht werden wollte, begann ein in China stationiertes Unternehmen diskret mit deren Herstellung. Zyniker werden die Rolle Chinas bei der Produktion der RU-486 vielleicht als Beihilfe zum Selbstmord jener einen Nation einstufen, die Peking den Weg zur Hegemonie in Asien und zur Weltmacht versperren kann.

Der Entscheid des Obersten Gerichtshofes stellte das Recht der Frau auf Abtreibung unter den Schutz der Verfassung. Doch erklärt dies noch nicht, warum sich bei den amerikanischen - und ganz allgemein bei den westlichen - Frauen ein Wandel in der Einstellung vollzogen hat. Woher kam diese Feindseligkeit gegen die Idee der Schwangerschaft und Mutterschaft, die dazu führte, daß unzählige Frauen sich für die Abtreibung entschieden - einen Schritt, den ihre eigenen Großeltern schaudernd als monströses Verbrechen gegen Gott und die Menschheit verworfen hätten? In den fünfziger Jahren galt eine Schwangerschaftsunterbrechung nicht nur als Delikt, sondern auch als ehrenrühriger Akt. Es gab keine landesweite Kampagne für ihre Legalisierung. 15 Jahre später jedoch wurde der Beschluß des Obersten Gerichtshofes zur Freigabe der Abtreibung als Meilenstein auf dem Weg des sozialen Fortschritts gepriesen.

Im Bewußtsein Dutzender Millionen von Amerikanern war ein revolutionärer Wandel erfolgt. Es gab zwei mögliche Erklärungen dafür: Entweder trieben die Entwicklungen der sechziger Jahre einen moralischen Keil zwischen uns, oder aber sie offenbarten einen moralischen Bruch, der bereits früher existiert hatte, den wir jedoch nicht erkannt hatten. Ich meine, daß die erste Erklärung zutrifft. In jenem schicksalhaften siebten Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts wurde ein großer Teil der jungen amerikanischen Generation zu einer neuen Denkart, zu neuen Glaubens- und Lebensformen bekehrt.

Von 1945 bis 1965 herrschte in Amerika das, was Soziologen als das "goldene Zeitalter der Ehe" bezeichnen. Damals sank das durchschnittliche Heiratsalter auf ein Rekordtief, und die Anzahl der Erwachsen, die in den Ehestand traten, erreichte die astronomische Höhe von 95 Prozent. Das Amerika Eisenhowers und Kennedys war eine vibrierende, dynamische Nation. Doch dann trat eine Entwicklung ein, die Allan Carlson, Vorsitzender des Howard Center for Family, Religion, and Society, wie folgt beschreibt: "Alle Indikatoren, die auf eine Blüte der Familie hinwiesen, veränderten sich in dieser kurzen Periode (1963-1965) jäh. Die Fruchtbarkeit sank und erreichte bald negative Werte; die Zahl der Eheschließungen ging abrupt zurück, und die westlichen Gesellschaften schienen jeglichen Sinn für die überkommene Familienordnung zu verlieren." (...)

Da der Abwärtstrend der Geburtenrate Mitte der sechziger Jahre einsetzte, müssen wir die Gründe, die die amerikanischen und westlichen Frauen zur Kinderlosigkeit bewogen, in den Geschehnissen jener Jahre suchen. Mit was für Ideen wuchsen die Kinder des Babybooms auf? Was für Ideen wurden ihnen in Schule und Universität eingehämmert? (...)

1964, im Jahr von Mario Savio und dem Free Speech Movement (Bewegung für Redefreiheit) in Berkely, begann die erste Welle von Babyboomern mit dem Universitätsstudium. Diese jungen Leute hatten niemals Not oder Krieg kennengelernt und gaben sich begeistert dem Rock'n Roll hin. Studentenunruhen und Jugendrebellion wurden Lyndon B. Johnson, Richard Nixon, Spiro Agnew und dem Vietnamkrieg zur Last gelegt, doch ist diese Erklärung unzureichend. Die Unruhen waren nämlich nicht auf die USA beschränkt. Sie brachen in ganz Europa, ja sogar in Japan aus. 1968, zu einem Zeitpunkt, als während der "Tage des Zorns", nach der Erschießung mehrerer protestierender Studenten durch die Nationalgarde, der Parteitag der Demokraten in Chicago im Chaos endete, standen tschechische Studenten, die den Prager Frühling mitgestaltet hatten, russischen Panzern gegenüber, mexikanische Studenten wurden in den Straßen von Mexico City niedergemäht, und französische Studenten hätten Paris beinahe Präsident de Gaulle entrissen.

Was die Babyboomer mit gleichaltrigen Jugendlichen im Ausland gemeinsam hatten, war weniger die Erfahrung des Vietnamkrieges als ihre zahlenmäßige Stärke, ihr Wohlstand, ihre Sicherheit und ihre Freiheit sowie die Möglichkeit, die Aktivitäten ihrer Altersgenossen in aller Welt über den Fernseher mitzuverfolgen und sich dadurch beflügeln zu lassen. In ihrer Kindheit hatten sie alle den gleichen Babysitter gehabt - den Fernsehapparat, der ihnen mehr Unterhaltung bot als ihre Eltern. Seine beharrlich verkündete Botschaft lautete: "Kids - ihr braucht dies und das, und zwar sofort!"

Nun, da Millionen junger Männer und Frauen von ihren Eltern, Lehrern und Priestern "befreit" waren, Geld wie Heu hatten und man allenthalben "unter den Talaren den Muff von tausend Jahren" roch, rollte die Revolution über die Universitäten. Bei Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg skandierte man "Hey, hey, LBJ / How many kids did you kill today" (Hallo, Lyndon B. Johnson, wieviele Kinder hast du heute wieder umgebracht?) sowie "Ho, Ho, Ho Chi Minh / The NLF is going to win" (Ho, Ho, Ho Chi Minh, die Nationale Befreiungsfront gewinnt). Die Drogenrevolution feierte ihre Triumphe - "Turn on, tune in and drop out" (Bekiffe dich, mach' bei uns mit und klink' dich aus), und die sexuelle Revolution lockte mit dem Slogan "Make love not war" (Macht Liebe statt Krieg). Dann kam die Frauenbewegung, die nach dem Vorbild der Bürgerrechtsbewegung organisiert war und selbst im konservativen Herzland der USA viele Anhänger gewann. So wie die Schwarzen Gleichberechtigung mit den Weißen gefordert hatten, verlangten die Frauen nun gleiche Rechte wie die Männer. Wenn sich die jungen Burschen so richtig austoben und ihre sexuellen Partner wie die Hemden wechseln dürfen, warum nicht auch wir? Doch da die Natur die Geschlechter nicht für diese Rolle geschaffen hat und Promiskuität für Männer und Frauen ganz und gar ungleiche Folgen hat - letztere können nämlich schwanger werden -, mußte nach Lösungen gesucht werden. Der Konsumrausch tat das seine. Wenn man vergessen hatte, seine Pille zu nehmen, oder wenn sie versagt hatte, half einem der nächste Abtreibungsarzt bestimmt aus der Patsche.

Die alten Sanktionen gegen Promiskuität entfielen. Die von der Natur verhängten Sanktionen - unerwünschte Schwangerschaft und die Furcht vor Geschlechtskrankheiten - wurden durch die Pille, die Freigabe der Abtreibung sowie neue, außerordentlich wirksame Medikamente beseitigt. Nun gab es niemanden mehr, der heiraten "mußte". Ein tränenreicher Auftritt im Center for Reproductive Rights (Zentrum für Zeugungsrechte) reichte, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Die Furcht vor gesellschaftlicher Ächtung, dem Verlust des Ansehens, verblaßte angesichts einer populären Kultur, die der sexuellen Revolution Beifall spendete und junge Frauen, die in den Vierzigern und Fünfzigern mit bedeutend weniger schmeichelhaften Namen bedacht worden wären, als "Swinger" feierte. Die moralischen Sanktionen - das Gefühl der Scham und der Sünde, das Bewußtsein, Gottes Gebote verletzt zu haben und die Gefahr, seine unsterbliche Seele zu verlieren - wurden von einer neuen Art von Priestern und Pastoren gelindert, die den Slogan "Are You Running with Me, Jesus?" (Kommst Du mit mir auf den Trip, Jesus?) propagierten und enorm populär wurden, indem sie erklärten, Er (oder Sie) sei kein richtender Gott, und die Hölle sei "lediglich eine Metapher".

Nicht genug damit, daß die alten Sanktionen entfielen: Es entstand eine neue Beurteilung der Moral, die die Losung "Tu, was Du willst" rechtfertigte, ja sogar zum Gebot erhob. Unter diesem neuen Kodex galt als Gradmesser der Moral nun nicht mehr, wer mit wem schlief und wer zu welchen Drogen griff - all dies waren bloß noch triviale Fragen der persönlichen Präferenz -, sondern wer sich im Süden für Bürgerrechte einsetzte, gegen die Apartheid protestierte und gegen den "schmutzigen, unmoralischen Krieg" in Vietnam mitmarschierte. Wie oft zuvor in der Geschichte wurde ein neuer moralischer Kodex aufgestellt, um einen bereits Wirklichkeit gewordenen neuen Lebensstil zu rechtfertigen. Während sie sich dem Sex, dem Drogengenuß, dem Randalieren sowie dem Rock and Roll hingaben, wurden die jungen Jakobiner von einer nachsichtigen und sich regelrecht anbiedernden Elterngeneration in ihrer Gewißheit bestärkt, daß sie in der Tat "die tollste Generation, die wir je hatten," waren. (...)

Die Kulturrevolution, die über Amerikas Universitäten hinwegfegte, war eine echte Revolution. Sie führte dazu, daß die christliche Moralordnung, welche sie herausforderte, innerhalb rund dreier Jahrzehnte von vielen Millionen Menschen abgelehnt wurde. Ihre Feindschaft gegen das konservative Amerika von gestern war unseren kulturellen Eliten in Fleisch und Blut übergegangen, und dank ihrer Beherrschung der meinungs- und wertebildenden Institutionen - Film, Fernsehen, Theater, Presse, Musik - gelang es diesen Aposteln der Revolution, ihr Evangelium weltweit zu verbreiten und Dutzende von Millionen für sich zu gewinnen.

Es gibt heute zwei Amerikas. Mother Angelica und die Sonntagspredigt konkurrieren mit Ally McBeal und Sex and the City. Und die Botschaft, die die Leitkultur Tag und Nacht vermittelt, reagiert mit hämischem Gelächter auf die alte Vorstellung, nach der ein gutes Leben für eine Frau mit einem Ehemann und einer Schar von Kindern gleichbedeutend ist.

 

Patrick J. Buchanan, US-Journalist, kandidierte zweimal als Präsidentschaftsbewerber der Republikanischen Partei. Der Text ist ein Auszug aus seinem gerade auf deutsch erschienenen Buch "Der Tod des Westens" (Bonus Verlag, Selent 2002). Der Abdruck erfolgt mir freundlicher Genehmigung des Verlages.


 
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