© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/02 29. November 2002


Wir sind alle gefordert
Deutschland braucht eine Reform an Kopf und Gliedern
Alexander Griesbach

Einmal mehr geht die Angst in Deutschland um. Angst um unseren Wohlstand, Angst um unsere Renten, Angst vor der Zukunft. "Angst essen Seele auf" - vor allem die der empfindsamen Deutschen von heute. Entsprechend ist es um das Seelenleben vieler Zeitgenossen in diesen Tagen, in der in Berlin Hiobsbotschaft auf Hiobsbotschaft verkündet wird, bestellt. Und wieder droht den Deutschen das Maß verlorenzugehen. Da ist von Revolten zu lesen, die angezettelt werden müßten, um "denen da oben" Beine zu machen. Dort wird ein "Nachruf auf die Deutschen" verfaßt, denen ein neuer, ein "postnationaler Menschenschlag" folgen werde.

Unterdessen versuchen konsenssüchtige Berufspolitiker hektisch und ohne erkennbares Konzept die überall aufreißenden Haushaltslöcher zu stopfen. Das einzige Mittel, das die Regierungsparteien in diesen Tagen zu bieten haben, sind Steuererhöhungen, die den letzten Rest an wirtschaftlicher Dynamik zu ersticken drohen. Diese erwecken mehr und mehr den Eindruck eines aufgescheuchten Hühnerhaufens, der von einer Ecke in die nächste Ecke hetzt.

Wir stehen, wenn nicht alles täuscht, am Ende einer Ära. Eine nur an Wohlstand und Wohlleben gewöhnte Generation von Politikern ist mit ihrem Latein am Ende. Und nicht nur das: die offensichtliche Inkompetenz dieser Klasse, die entscheidend dazu beigetragen hat, daß sich Deutschland inzwischen bei nahezu jedem internationalen Vergleich am Ende der Rangliste wiederfindet, zerstört sukzessive die imponierende Wiederaufbauleistung der Kriegsgeneration, deren unermüdliche Schaffenskraft unseren Wohlstand überhaupt erst begründet hat.

Machen wir uns doch nichts vor: innovative bzw. reformerische Impulse, die den Erhaltungs- und Überlebensinteressen der Deutschen förderlich sein könnten, werden von diesen Politikern nicht ausgehen. Diese personifizierten Mittelmäßigkeiten ihrer Parteien taugen bestenfalls zum Wegbeißen innerparteilicher Konkurrenten. Jetzt, in Zeiten schwerer Turbulenzen, zeigen sich überdeutlich die intellektuellen und gestalterischen Grenzen derjenigen, die in den Parlamenten der Papierform nach deutsche Interessen vertreten sollten.

Außerhalb des Vorstellungsvermögen vieler sogenannter Volksvertreter ist ein Zusammenhang, den der Ökonom Walter Eucken als "Interdependenz der Ordnungen" bezeichnete. Hochkomplexe Industriegesellschaften gleichen kybernetischen Systemen, in denen sich häufende systemwidrige Maßnahmen in vielen Einzelbereichen schließlich zu einer Funktionskrise des Systems führen und dieses letztlich zerstören können. Wir befinden uns ohne Zweifel in einer derartigen Funktionskrise. Dies zeigt auch und gerade der penetrante Fiskalsozialismus der derzeitigen rot-grünen Regierung. Diese hat offensichtlich jedes Maß dafür, wieviel der Staat sich von seinen Steuerzahlern aneignen darf, verloren. Wenn die Abgabenquote den Freiheitsgrad einer Gesellschaft widerspiegelt, dann steht es in Deutschland schlecht um die Freiheit.

Das Eigentum steht heute zur Disposition von Politik und Verwaltung: ein Ende der Dynamisierung von Steuersätzen, Beitragsbemessungsgrenzen, Abgabensätzen und Zuschlägen ist nicht abzusehen. Im Gegenteil: Überalterung, Mißwirtschaft, Bürokratisierung und unerwünschte Zuwanderung drohen sich für Deutschland zu einem race to the bottom auszuwachsen. Plausible Sanierungskonzepte, mit denen Deutschland wieder auf die Beine geholfen werden könnte, drängen sich derzeit nicht auf. Schon gar nicht glaubwürdig ist das Getöse der Unionsparteien, die aufgrund der 16jährigen Regierungszeit von Helmut Kohl maßgeblichen Anteil an der Zerrüttung der Staatsfinanzen haben. Bereits Mitte der achtziger Jahre, also zu Beginn der Ära Kohl, hat sich die Sozialpolitik mehr und mehr von den ökonomischen Bedingungen, von der Wirtschaftspolitik und von den Prämissen der Sozialen Marktwirtschaft abgekoppelt. Die hier zum Ausdruck kommende Mißachtung wirtschaftlicher Grenzen und sozialer Verhaltensweisen hat sich bis heute durchgehalten, ohne daß es zu nennenswerten Korrekturen gekommen wäre.

Deutschland braucht dringend ein umfassendes Reformkonzept. Isolierte Maßnahmen, mit denen an den sozialen Sicherungssystemen oder den zerrütteten Staatsfinanzen herumgedoktert wird, reichen nicht mehr aus.Dieses Konzept muß auf eine umfassende Demokratiereform hinauslaufen, mit der die ordnungspolitische Verwahrlosung Deutschlands, die sich in galoppierender Staatsverschuldung, Bürokratisierung und überdimensionierter Staatsquote äußert, überwunden werden kann. In Deutschland muß wieder ein klares Bewußtsein dafür geschaffen werden, was des Staates ist und was nicht. Das entscheidende Kriterium dieser Reform muß deren Bewährung im internationalen Standortwettbewerb sein.

Weiter muß die vollkommene Durchdringung aller gesellschaftlichen Bereiche durch den Parteienstaat deutlich beschnitten werden. Das Berufspolitikertum ist zugunsten des Politikers im Nebenamt zurückzudrängen. Die Beamtenvormacht im Parlament muß endlich zugunsten innovativer gesellschaftlicher Leistungsträger wie der Selbständigen und der Unternehmer korrigiert werden. Zu diskutieren wäre auch eine Begrenzung des Mandats, um einen dauernden parlamentarischen Ausleseprozeß in Gang zu setzen. Desweiteren ist die Etablierung direktdemokratischer Elemente (Veto- und Initiativrechte des Volkes) in Erwägung zu ziehen. Die Einschränkung der politischen Mitbestimmung durch das Volk muß endlich ein Ende finden.

Schließlich bedarf es einer Rückbesinnung darauf, was Soziale Marktwirtschaft eigentlich sein wollte. Deren Initiatoren wie zum Beispiel Alfred Müller-Armack war immer bewußt, daß die Marktwirtschaft das Fundament des Sozialen ist und damit eine eigene soziale Dimension hat. Die Soziale Marktwirtschaft kann nur dann sozial sein, wenn sie effizient ist. Angelpunkt dieses Konzeptes ist eine konsequent gestaltete Wettbewerbsordnung, die wirtschaftliche Denn nicht Umverteilung ist das bestimmende Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft, sondern Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit.

Nur wenn diese Ideen wieder fruchtbar gemacht werden können, werden sich die Deutschen auch in Zukunft eines überdurchschnittlichen Wohlstandes erfreuen können. Diese notwendigen Reformen müssen allerdings von den Deutschen selbst gewollt und angestoßen werden. Jeder einzelne ist deshalb aufgefordert, aktiv zu werden. Bloßes Lamentieren ändert die Verhältnisse nicht. Machen wir die Zukunft unseres Landes zu unserer aller Aufgabe!


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen