© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/02 29. November 2002

 
Pankraz,
B. Croce und der Igel als Ruinenbaumeister

Wir alle wollen gern fertig werden, bleiben aber doch ein Leben lang unfertig. In Kunst und Literatur wimmelt es von Unvollendetem, Mozarts Requiem und Diderots "Jacques le fataliste", Beethovens Neunte und Bachs Kunst der Fuge, Schuberts Siebente, Kafkas Romane und Gaudis Kathedrale Sagrada Familia in Barcelona ...

Es gibt ein dickes Buch von Benedetto Croce, "La Poesia" von 1943, in dem penibel aufgezeigt wird, daß auch die meisten der berühmten "vollendeten" Werke, Dantes "Göttliche Komödie" etwa oder Goethes "Faust", in Wirklichkeit unvollendet blieben, daß sie Vollendung lediglich vortäuschen, indem an sich disparate Stücke künstlich und letztlich lustlos zusammengeklebt und unter einen gemeinsamen Titel gerückt werden. Nicht nur im Leben überhaupt, so Croces Resümee, sondern auch in Kunst und Literatur kann es keine Vollendung geben. Unsere menschlichen Werke sind und bleiben Fragment, Torso, Steinbruch. Wer es anders behauptet, macht sich etwas vor.

Weshalb machen sich trotzdem beinahe alle etwas vor, streben nach Abrundung, Schlußpunkt, Happy End? Diese Frage war vor zwei Semestern Thema einer Ringvorlesung an der Universität Zürich; jetzt sind, unter dem Titel "Brüche, Torsi, Unvollendetes" (Chronos Verlag, Zürich, Herausgeber Kurt Schärer und Erwin Son-deregger), die damaligen Vorträge erschienen. Wer dem hochinteressanten, äußerst farbenreichen Phänomen des Fragmentarischen in Kunst und Literatur, Wissenschaft und Lebensgestaltung ein wenig nachgehen will, wird hier kulant und kenntnisreich bedient.

Die meisten Dozenten vermuten, daß der Drang zur Vollendung ein Fluchtreflex ist, ein Versuch, der irdischen Vergänglichkeit auszuweichen, ihr ein Schnippchen zu schlagen, sie im vollendeten Werk zu widerlegen. Vor allem das Publikum von Kunstwerken, der Kunst-"Verbraucher", will Happy End, ewiges Liebesglück oder Herstellung der Gerechtigkeit oder komplette Rätselauflösung, und übt einen entsprechenden Druck auf die Produzenten aus.

Epochen, wo Produzenten und Konsumenten sich über die Vergeblichkeit von Happy End und Rätselauflösung einig waren und das Fragment ausdrücklich forderten, sind selten. Die deutsche Frühromantik um Novalis, Tieck und Friedrich Schlegel in Jena war eine solche Epoche, wo Autoren unter Zustimmung der Leser ihre Romane absichtlich "offen" hielten und in Ansprachen und Gedichten das Fragment, den Torso, den Steinbruch enthusiastisch feierten und anpriesen. Die Geduld des Publikums hielt nicht lange vor, bald galt das, was soeben noch gepriesen worden war, als Marotte, Stilmangel.

Einige hatten auch gemerkt, daß es eine Kunst des Fragments ehrlicherweise gar nicht geben kann. Wer sich vornimmt, keine Ganzheiten, sondern Fragmente zu schaffen, hat ja durchaus ein Ziel vor Augen, eben das Fragment, das "perfekte Fragment", das gar nicht mehr fertigwerden will und gleichwohl im Nichtfertigwerdenwollen fertig wird. Friedrich Schlegel nannte die Resultate der romantischen Fragmentkunst "Igel, die sich mit ihren Stacheln gegen die Fertigmacher sträuben". Daß Igel samt ihren Stacheln selber fertige Entitäten sind, entging ihm.

Nur "unabsichtliche" Fragmente, bei denen der Tod oder ein sonstiges Verhängnis dem Produzenten sein Werkzeug gewaltsam weggenommen haben, werden vom Publikum à la longue wirklich goutiert, also Beethovens Neunte oder Gaudis Sagrada Familia usw. Solche Schöpfungen sind von intensiver Tragik umweht, die ihre Wertschätzung sogar noch steigert. Ihre Schöpfer werden als Heroen vorgestellt, die bis zuletzt mit den Elementen um Vollendung rangen und dadurch zum Sinnbild dessen wurden, was dem Menschen nach Auffassung vieler qualifizierter Geister am ehesten ziemt: Sich mit dem Unvollkommenen nicht abzufinden, bis zuletzt das Fähnlein der Aufrechten flattern zu lassen und die Vollendung zumindest als Utopie im Visier zu behalten.

An zweiter Stelle in der Wertschätzung stehen jene Werke - Stichworte: Göttliche Komödie, Faust -, die nur unter größten Mühen und Gewissensbissen "fertig" geworden sind. Nicht der reibungslose Nachhausekommer wird bevorzugt, sondern derjenige, dem die Wunden und Schmisse der Heimfahrt deutlich ins Gesicht, nämlich ins Werk, geschrieben sind. Diese Wunden, sagt Benedetto Croce, "stören" zwar den Gesamteindruck der Gelungenheit, es sind Bruchstellen, "pezzi strutturali", doch sie legen just dadurch Zeugnis ab vom Ernst des Autors, daß er mit den Göttern gekämpft hat und gerade noch davongekommen ist.

Wem der Tod aber nicht die Feder bzw. den Meißel aus der Hand genommen hat und wer auch dem direkten Kampf mit den Göttern aus dem Weg gegangen ist, der muß wenigstens glaubhaft sein schlechtes Gewissen zeigen, daß er beim Hinsetzen des Happy Ends empfunden hat. Am besten gelingt dies mit Hilfe der Ironie, die Friedrich Schlegel seinem romantischen Igel empfohlen hatte. Nicht in erster Linie der bewußte Ruinenbaumeister bedarf der romantischen Ironie, nein, der eifrigste Nutzer sollte jener Baumeister sein, der ehrlichen und bekümmerten Herzens sehr wohl fertig werden will, um die Untiefen dieses merkwürdigen Werdens aber genau bescheid weiß und seinem Kummer darüber irgendwie Ausdruck verleihen will.

Unendlich viele Formen solcher Ironie als Protest gegen das Fertigwerden sind denkbar, von der versteckt angebrachten Teufelsfratze im christlichen Dom bis zum donnernden Schlußakkord in der Symphonie, der nicht genug von sich kriegen kann und von einer Coda in die andere rollt, wie das einst der geniale Musikclown Victor Borge in einer seiner Spitzennummern so hinreißend vorgeführt hat. Weder Teufel noch Schlußakkord helfen freilich über die Kalamität hinweg, daß jedes artifizielle Ende nur vorgetäuscht ist und daß jede menschliche Schöpfung, und so auch die Kunst, unvollkommen bleiben muß.


 
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