© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/02 29. November 2002

 
Verrückt nach Napoleon
Die Franzosen weisen nach fast zweihundert Jahren immer noch jede Kritik an ihrem Idol zurück
Jean-Jacques Mourreau

Knapp zweihundert Jahre, nachdem Napoléon Bonaparte 1804 sein "Empire français" ausrief, ist er immer noch das Idol der Franzosen. Längst ist in sämtlichen Medien Vorfreude auf die Jubiläumsfeierlichkeiten entflammt. Wartet man auf die Rückkehr eines mythischen Erlösers, oder ist es bloß die Sehnsucht nach einer Zeit, als die Grande Nation sich die Welt untertan gemacht hatte?

Für viele Franzosen ist und bleibt der Korse ein zweiter Alexander, l' enfant chéri de la gloire, wie ihn die "Ajacienne" besingt. In Paris pilgern sie zum Invalidendom, um in geradezu religiöser Ehrfurcht an seinem Grabmal aus rotem Porphyr niederzuknien. Seine Schlachten sind im Stein des Triumphbogens verewigt. Straßennamen erinnern an seine Grande Armée, seine Generäle und die Orte seiner Siege. Ihm zu Ehren wurde die Vendôme-Säule errichtet. Man kann dem Maler Gustave Courbet schwerlich einen Vorwurf daraus machen, daß er in ihr ein Schandmal sah: Als Präsident der Künstlervereinigung regte Courbet ihren Abriß an und wurde nach ihrer tatsächlichen Zerstörung 1871 für den Wiederaufbau der Säule zur Kasse gebeten.

Die einen feiern ihn als Retter der Revolution, die anderen, weil er Frankreich aus den Klauen der Revolution gerettet hat. Haben die Franzosen vergessen, welch fürchterliche Katastrophe Napoléons Abenteuer für ihr Land bedeuteten? Vergöttern sie ihn deshalb so beharrlich, weil er Italien verwüstet, Spanien verbrannt und das Heilige Römische Reich deutscher Nation zerstört hat? Für welche Heldentaten bewundert man ihn - für seinen vergeblichen Versuch, England zu besiegen?

Auf Napoléon gründet sich der nationale Mythos

Hegel sah ihn als "Weltseele zu Pferde" - in Frankreich gilt er seiner kleinwüchsigen Statur zum Trotz als Riese mit verschiedenen Gesichtern und unzähligen Tugenden. Ist er nicht zugleich das militärische Genie von Austerlitz, der "kleine Gefreite", der Haudegen ins Ohr kniff, Verfasser des Code civil sowie der Satzung der Comédie français, von unermüdlichem Fleiß besessener Nachfolger Karls des Großen, Schöpfer des modernen Frankreichs?

Wie ein Schatten dieser goldenen Legende entstand schon zu Napoléons Lebzeiten eine schwarze, die ihn als Ungeheuer, als Usurpator, als Despoten darstellt. Sie begann mit Chateaubriand und Benjamin Constant und wurde von Taine und Tocqueville fortgesetzt. Für sie ist Napoléon der Antichrist, der sich nur mit Attila dem Hunnen und Dschinghis Khan messen kann, ein blutdürstiger Vampir, der als Vater des Totalitarismus und der Zentralisation in die Geschichte einging.

Der Historiker Jean Tulard mag sich noch so sehr bemühen, Napoléons Hagiographie mit Fragezeichen zu versehen, indem er die Schattenseiten des wie Cäsar zum Diktator aufgestiegenen Generals aufzeigt - die Franzosen weisen jede Kritik an ihrem Idol zurück. Über die Entführung und Ermordung des Herzogs von Enghien sehen sie ebenso hinweg wie über die Inhaftierung des Papstes, die Festnahme und Hinrichtung des Nürnberger Buchhändlers Johann Philipp Palm am 26. August 1806 für die Veröffentlichung eines Pamphlets, das unter dem Titel "Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung" zum Widerstand aufrief. Was bedeutet ihnen die Demütigung Königin Luises von Preußen oder den Zorn Kleists?

Napoléons Guerilla-Kriege in Spanien und in Tirol, seine Methoden der polizeilichen Überwachung, die Wehrpflicht und den ständigen Kriegszustand in ganz Europa, den Haß, den er auf Frankreich zog, das schleichende Gift der "Illusion der allmächtigen Gewalt", die, wie der italienische Historiker Gugliemo Ferrero gezeigt hat, in die Blutbäder des 20. Jahrhunderts mündeten - all dies scheint man bereitwillig zu vergessen. Die außergewöhnliche Persönlichkeit, der diese historischen Errungenschaften zu verdanken sind, dieser "Kraftspender und Seelenaufrührer", ist noch heute das geheime Vorbild vieler Franzosen. Auf ihn gründet sich der nationale Mythos, den Stendhal und Balzac, Hugo und Dumas schwärmerisch verklärt haben.

Im Laufe der letzten zweihundert Jahre hat sich um die Epoche und Figur des Napoléon Bonaparte ein eigener literarischer Kanon gebildet. Hier findet man das Beste und das Schlechteste, was die Literatur zu bieten hat, Werke zur militärischen Strategie neben Bettgeschichten. Kein geschäftstüchtiger Verleger käme auf die Idee, ein Buch zu diesem Thema abzulehnen. Der ehemalige Minister Max Gallo widmete Napoléon eine vierbändige Biographie, in der er ihn zugleich als Prometheus und als Mann der Revolution darstellte. Skeptischer gibt sich Jean Dutourd von der Académie français: Er ist keineswegs davon überzeugt, daß Napoléon sich zum Wohle des Landes in die französische Geschichte drängte. In seinem ironisch betitelten Essay "Le Feldmaréchal Bonaparte" (Paris: Flammarion, 1996) erwägt Dutourd, wieviel mehr Nutzen ebendieser "Feldmarschall Bonaparte" in den Diensten Österreichs gebracht hätte.

Neben dem Streit um die "schleichende Vergiftung", der sich in mehreren Veröffentlichungen niederschlug, stand das vergangene Jahr ganz im Zeichen der Hundert Tage. In "Les Cents-Jours ou l'esprit de sacrifice" (Paris: Perrin, 2001) pries der damalige Generalsekretär des Präsidenten und derzeitige Außenminister Dominique de Villepin den "Opfergeist" jener eher katastrophalen denn glorreichen Episode. Beide Werke erwiesen sich ebenso als kommerzielle Erfolge wie die Romane des Patrick Rambaud, der in einer kaum ehrfürchtig zu nennenden Weise zwei Ereignisse ins Rampenlicht zerrt, die zumeist in geschichtliche Obskurität gehüllt werden: "La Bataille" (Paris: Grasset, 1997) ist den Schlachten von Aspern und Wagram 1809 gewidmet, während "Il neigeait" (Paris: Grasset, 2000) schon im Titel lakonisch auf die Schrecken des Rußlandfeldzugs verweist: "Es schneite".

Im Oktober strahlte der Sender France 2 einen Fernsehfilm aus, in dem Christian Clavier - dessen eigener Ruhm sich auf seine Rolle in den Kassenschlagern "Les Visiteurs - Die Besucher" (1993) und "Die Zeitritter" (1995) gründet - die Ehre zuteil wurde, den "Grand Homme" spielen zu dürfen. Erlesene Komiker wie Gérard Depardieu bemühten sich redlich, diesem albernen Comicstreifen voller Anachronismen Leben einzuhauchen. Robert Hossein ehrt Napoléon mit einem mehrstündigen Schauspiel, einem Riesenspektakel, das von Mystik durchdrungen ist. Für nächstes Jahr ist ein Spielfim angekündigt. Le Figaro begab sich in einer Sonderausgabe auf die Spuren des Bonaparte; eine zweite Nummer soll Napoléon gewidmet werden. Auch der linken Presse ließ das Thema keine Ruhe. Die Wochenzeitung Le Nouvel Observateur hat ein ganzes Heft über das "Genie" Napoléon veröffentlicht.

Schutz in Zeiten des Zweifels und der Ungewißheiten

Die wiedererwachte Napoléon-Begeisterung verblüfft um so mehr, als Frankreich endlich dabei ist, sich des zentralstaatlichen Korsetts zu entledigen, das der Korse ihm vor zweihundert Jahren aufzwang. Das nahende Jubiläum seiner Kaiserproklamation reicht nicht aus, um dieses Phänomen zu erklären. Woran kann es also liegen?

In einer Zeit der Zweifel und Ungewißheiten, in der sich die Franzosen geschichtlich verwaist fühlen, suchen sie den Schutz eines Nationalhelden. Ist es das Warten auf den Erlöser? Faszinierte Anteilnahme an seinem romantisch-bewegten Schicksal? Auflehnung gegen das Verschwinden nationaler Perspektiven oder endgültiger Triumph des französischen Narzißmus? Nostalgische Erinnerung an die einstige Größe, Aufbegehren gegen die Europäische Union? In einer vor kurzem erschienenen Aphorismensammlung merkt der elsässische Zeichner Toni Ungerer ironisch an: "Die Franzosen sind stolz auf die Revolution und auf Napoléon, weil sie daran 'gescheitert' sind, Europa zu erobern. Demnach müßten die Deutschen auf Hitler stolz sein."

"Le Figaro"-Sonderheft zu Napoleon: Die "Weltseele zu Pferde" wird in Frankreich immer noch verehrt

 

Jean Jacques Mourreau ist gebürtiger Elsässer und arbeitet als Journalist und freier Schriftsteller. Zuletzt veröffentlichte er den Roman "Un Eté Rhenan" (Paris: Séguier, 2001) und das Nachschlagewerk "Dictionnaire sincère de l'Alsace singulière" (Paris: Séguien, 2002).


 
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