© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/02 29. November 2002


Renaissance des Sehens
von Angelika Willig

Ein bißchen sieht er aus wie Beuys. Vielleicht liegt es auch nur an dem Hut, den beide nie absetzen. Der verstorbene Künstler Josef Beuys nicht, wenn er Abfall arrangierte, und der Plastinator Gunther von Hagens nicht, wenn er Leichen seziert. Scharlatane sind beide, der ehemals passable Zeichner Beuys und der ehemals ordentliche Anatom Hagens. Mit ihrem Können wären beide nie so weit gekommen wie mit der Sensationslust des Publikums. Beide nehmen nicht für sich in Anspruch, Künstler zu sein - und doch gibt es für ihr Treiben keine andere Entschuldigung.

In London hat Hagens in der letzten Woche vor zahlenden Zuschauern in einer Galerie die Leiche eines 72jährigen Deutschen geöffnet und die entnommenen Organe in Schüsseln herumreichen lassen. Die Behörde wollte einschreiten, doch Hagens verfolgt die bekannte Strategie moderner Künstler, sich auf Freiheit und Demokratie zu berufen und damit alle Einwände mundtot zu machen. Er rief die Besucher seiner Ausstellung "Körperwelten", die wegen starken Andrangs gerade verlängert wurde, zu einer öffentlichen Demonstration für das Recht auf Voyeurismus auf.

Die "Körperwelten", die auch in Deutschland Besucherrekorde erzielten, sind noch fragwürdiger als das öffentliche Sezieren. Denn hier werden Leichen nicht nur gezeigt, wie sie wirklich aussehen, sondern auf künstlerische, man kann auch sagen kitischige Weise arrangiert, was an die Knochenmosaike in Mexiko erinnert­, nur daß es dort aus der Naivität kommt, hier aus der Raffinesse. Als Hagens noch Wissenschaftler war, erfand er eine neue Methode zur Haltbarmachung toter Körper, die sogenannte Plastination. Danach sieht das Gewebe lebendig aus und bleibt geruchlos. Der Nachteil der Plastinate ist allerdings, daß man daran nicht mehr herumschnippeln kann, sie würden dabei auseinanderbröckeln wie alte Pfefferkuchenmänner. Hagens richtet seine Ausstellungsstücke also in putzigen Posen her und konserviert sie dann für die Ewigkeit. Das ist auf jeden Fall mehr Bildhauerei als Pathologie.

Mit Wissensvermittlung hat Hagens Projekt also wenig zu tun. Die Welt bemerkt ganz richtig: "Wer behauptet, bei von Hagens Spektakel mehr erfahren zu haben als ein hilfloses 'Boa ey!', muß zur Strafe die Struktur des Knies erklären." Aber ist es nicht gerade diese Hilflosigkeit, die wir suchen, dieses Staunen und diese Andacht, die uns weder die Wissenschaft noch die Kunst heute liefern? Ästhetik und Information sind, wir haben es fast vergessen, nur sekundäre Bedürfnisse. Primär sind Furcht und Mitleid, wie Aristoteles es nannte. Bei den Griechen sind Kunst und Technik, Kunst und Wissenschaft, Kunst und Handwerk unter dem Begriff der techne noch ein- und dasselbe. Hagens Schauerschau ist immerhin eine Abkehr von dem bürgerlichen Kunstbegriff des 19. und 20. Jahrhunderts, der gekennzeichnet ist von der Vorstellung, daß Kunst etwas bloß Individuelles sei, unabhängig von der "entfremdeten" Realität. Diese Kompensationsfunktion von Kunst hat denn auch die bekannten Auswüchse hervorgebracht, wo es dann nur noch um die Losgelöstheit, um die Opposition und vor allem um die Selbstbeweihräucherung der Künstler als einzig authentische Figuren in einer schlechten kommerzialisierten Welt geht.

Die Entgegensetzung von Kunst und Wirklichkeit muß aufhören, weil sie direkt zur Unverständlichlichkeit, Unbrauchbarkeit und Unverschämtheit sogenannter moderner Künstler führt. Kunst sollte den Respekt vor der Wirklichkeit wecken und diese erhöhen. Dies oder zumindest etwas Ähnliches meint Hagens, wenn er vom "einzigartigen Erlebnis" spricht.

Er agiert nicht in der Gruselkammer, sondern eher im lichten heroischen Bereich der Anatomie. Künstler und Ärzte waren es, die zu Beginn der Neuzeit heimlich die Gehenkten von den Galgen schnitten. Sie wollten wissen, was der Mensch hinter seiner glatten Fassade ist. Es war jene Einstellung, die uns inzwischen zur biochemischen Analyse des Zellkerns geführt hat. Anatomie ist der Anfang der Aufklärung. Entsprechend wurde sie von der Kirche lange verboten. Auch die moderne Kunst läßt sich noch als hysterischen Protest gegen den objektiven Geist der Wissenschaft lesen. Dieser Protest löst sich auf. Da haben die Kunstkritiker ein Jahrhundert lang gegen die "museale Tradition" angeschrieben und Happenings verordnet in Artikeln, die wieder nur Kunstgelehrte lasen. Gunther von Hagens herumgereichte Organe sind ein Happening, seine Ausstellung ist volkstümlich und ohne Metaebene zu verstehen. Die Niedrigkeit, die das Spektakel unbestreitbar hat, zeigt einen gewaltigen Umbruch an.

Die Ausstellung "Sensations" von einer Londoner Künstlergruppe Ende der Neunziger Jahre, die in ganz Europa lief, hatte den Ton bereits angeschlagen. Was da für Sensation sorgte, über den üblichen Kunst-Klamauk hinaus, war der Verzicht einerseits auf Abbildung, andererseits aber auch auf das abstrakte Vermeiden von Abbildung. Statt dessen werden die Körper selbst gezeigt. "Sensations" brachte Schafskadaver im Riesenaquarium. Der Gedanke an Klonschaf Dolly drängte sich auf. "Wächserne Identitäten" dieses Jahr im Berliner Kolbe-Haus greift ebenfalls die Tradition des Kuriositätenkabinetts auf und bringt es mit genetischen Mutationen und Manipulationen in Zusammenhang. Im Katalog wird von einer "neuen Körperlichkeit" gesprochen, die sich dem "postulierten Verschwinden des Körpers im Zeitalter der Informationstechnologie" entgegenstellt. Die postmoderne Simulationstheorie findet hier deutlichen Widerspruch. Gegen die Siliconwelten bleibt das Fleisch die unhintergehbare Realität. Sie ist nicht der Werbung und den Hochglanzmagazinen zu überlassen. Gunther von Hagens ist Teil einer künstlerischen Strömung, plakativ bis vulgär vertritt er etwas, das sonst noch von wenigen wahrgenommen wird.

Er beruft sich dabei auf die Tradition öffentlicher Leichenschauen, die vom 16. Jahrhundert bis zur Goethe-Zeit reichte. Zweihundert Jahre später tue er das gleiche, was damals allgemein akzeptiert gewesen sei. Dies weist aber gerade auf die eigentliche Fragwürdigkeit seiner Show. Sie ist technisch nicht auf dem neuesten Stand. Zwar wird auch heute noch an der Leiche geschnitten, aber nur noch in praktischer Absicht, etwa in der Gerichtsmedizin oder beim Studentenunterricht. Niemand ist heute mehr wirklich gespannt, was sich unter der Haut verbirgt, weil wir es längst genau wissen und überall nachlesen können. Genau darum hat man auch mit diesen Vorlesungen aufgehört. Das Aufschneiden hat einen großartigen Nimbus, der aber aus früheren Zeiten stammt. Das läßt sich jetzt nicht einfach wiederbeleben. Insofern ist Hagens auf dem falschen Weg. Richtig ist aber sein Drang, an die Haltung der Renaissance anzuknüpfen und den Körper erneut zu thematisieren.

Auf weit höherem Niveau arbeitet der Bildband "Unsichtbare Welten" von der Biologin und Künstlerin France Bourély. Das Buch zeigt Fotos von Pflanzen und Insekten. In tausendfacher Vergrößerung durch das Elektronenmikroskop aufgenommen, sind diese Detailansichten für den Laien nicht mehr als Lebewesen zu erkennen. Sie wirken wie schwarz-weiß Landschaften, Ornamente, abstrakte Visionen. Und doch ist alles Natur. "Es sollte nicht einzig den Wissenschaftlern vorbehalten sein, die Mysterien des Lebendigen zu entdecken", schreibt Bourély im Vorwort. "Jeder müßte die Möglichkeit haben, auf diese Entdeckungsreise zu gehen, um sich an den ungewohnt weiten Dimensionen unserer Welt und ihrer Schönheit zu berauschen."

Es ist das gleiche Argument, das Hagens bringt, um seine "Schlächtereien" zu rechtfertigen. Der Unterschied ist nur, daß die von ihm angewandte Technik eher primitiv wirkt - genauso haben es schon die Anatomen auf dem Bild von Rembrandt gemacht - , während das Elektronenmikroskop eine Erfindung des späten 20. Jahrhunderts ist.

Bourély führt vor, worauf der Spinner Hagens eigentlich hinaus will. Die Sicht der Wissenschaft soll in die Kunst eingeführt werden und diese von ihrer Dekadenz heilen. Während man uns immer noch zwingen will, die Blähungen preisgekrönter Egozentriker nachzuvollziehen, schlummert in den naturwissenschaftlichen Fachbüchern die Schönheit, die erst unsere Zeit mit ihren technischen Möglichkeiten der Natur entreißen kann. Es ist eine gesetzmäßige, disziplinierte Schönheit, wie das die Ästhetik früherer Jahrhunderte ebenfalls verlangte. Handwerker, Wissenschaftler und Künstler sind in ihr ebenso wenig zu trennen wie in den Werken der Renaissance. "Die Renaissance des Sehens" nennt die französische Biologin ihr Projekt. Damit wird aber nicht nur die Kunst, sondern auch die Wissenschaft revolutioniert. Sie beschreibt, wie sie an die Universität Berkeley kam und dort zum erstenmal auf einen Professor traf, der Sinn für den übergreifenden Wert biologischer Einsichten jenseits von akademischer Profilierung hatte. Das Unsichtbare, erläutert sie, ist nicht eine verborgene Idee, die zur "fixen Idee" der Philosophen wurde, sondern das Unentdeckte. Und die wahre Bestimmung der Naturwissenschaften sind nicht in erster Linie kommerziell verwertbare Erfindungen, sondern die Entbergung der Welt. Eine andere Bestimmung hat aber die Kunst auch nicht. Nur in dieser neuen Einheit kann die Kunst ihren unheilvollen Individualismus ablegen und wieder eine allgemeine Aussagekraft gewinnen. Die besteht nicht mehr in irgendeiner Idee, sondern in der fortgesetzten "Frage nach dem Ding". Das klingt nach Heidegger, doch der hatte sich nicht träumen lassen, daß ausgerechnet die Technik seine Forderungen realisierbar machen würde. Die alten holländischen Meister mit ihren Stilleben, mit Käfern und Schneckenhäusern garniert, werden wir niemals so sehen können, wie sie Menschen ohne Kameras und Computerbildschirme sahen. Das wäre eine fromme Illusion. Aber das Elektronenmikroskop ermöglicht uns, eine vergleichbare Ehrfurcht vor den Fußspitzen eines Glühwürmchens zu empfinden.

Was ist der Unterschied zwischen einem Nitsch mit seinen blutenden Schweinehälften auf der Bühne und Hagens' Leichenöffnungen? Brechreiz mag beides hervorrufen, aber Nitsch will mit seinen Darbietungen etwas sagen. Was auch immer - die Gesellschaft anklagen, an Auschwitz erinnern, zeigen, daß alles sinnlos ist - jedenfalls gibt es eine "Botschaft", deren Wichtigkeit das Publikum schockartig eingebleut bekommen soll. Darum muß es sich alles gefallen lassen, das Publikum, weil "die Wahrheit" eben so häßlich aussehe. So funktioniert die "moderne Kunst". Auch die postmoderne Sinnverweigerungshaltung, die ständige Kostümierung im Dienste wieder einer Botschaft des "Es gibt keine Wahrheit" gehört noch dazu. Die "Körperwelten" brechen mit dieser Tradition. Das ist das Entscheidende, auch wenn Gunther von Hagens ein wenig seriöser und wenig sympathischer Typ sein mag. Die ewige Frage "Was will der Künstler uns damit sagen?" fällt hier in sich zusammen. Das einzige, was Hagens' Vorstellung sagen will, ist, daß so ein 72jähriger Deutscher von innen aussieht. So sieht das Herz aus, so sieht die Leber aus, so das Gehirn. Wen interessiert das? Offenbar viele.

Seltsam ist es schon, daß jeden Abend Millionen von Zuschauer sich eineLeiche nach der anderen servieren lassen, und das gar nicht ekelhaft finden. Aber die Fernsehleiche hat eine Geschichte. Und wenn sie noch so schlecht ist, stellt sie ein Opfer dar und verlangt Gerechtigkeit. Hagens' Leichen sind gesichts- und geschichtslos. Was, wenn wir alle so ein Haufen Fleisch wären? Sicher hat sich jeder längst diese Frage beantwortet - aber doch nur theoretisch. Es ist in der Tat etwas anderes, den Menschen wirklich als stinkenden Kadaver liegen zu sehen. Hagens will seinem Publikum die Schönheiten der Physis nahebringen. Aber das kann erst der zweite und dritte Schritt sein. Zuerst geht es hier nicht um Kunst, sondern um den Tod. Aber in ihren besten Zeiten ist es der Kunst nie um die Kunst gegangen. Man darf nicht vergessen, daß ein Gekreuzigter mit blutigen Wundmalen jahrhundertelang die kollektive Phantasie beschäftigte. Bestimmt nicht darum, weil das ein ästhetischer Anblick ist. Es ist ein schockierender Anblick. So schockierend wie die Beuys und Nitschs es nie vermochten. Nur eines ist noch furchtbarer als ein gekreuzigter Gott - ein namenloser Mensch auf dem Seziertisch.

Trotz der Ähnlichkeit, Josef Beuys und Gunther von Hagens stehen nicht für dieselbe Kloake, in der sich unsere Kultur seit langem befindet. Man darf nicht erwarten, daß aus ihr plötzlich eine neue hehre Götterwelt emporsteigt. Die Substanz wandelt sich fast unsichtbar unter den Händen. Der Mensch findet sich selbst wieder in einer neuen Rolle. Nicht mehr als Prometheus und nicht als Gotteskind, sondern als eine "Thierart"(Nietzsche) unter anderen. Der Abwertung des Kulturwesens durch einen selbstbezüglichen Kulturbetrieb begegnet nun die Aufwertung dessen, was der Mensch mit der Natur gemeinsam hat. Der nächste Schritt wäre in der Tat die Präsentation nicht des "Kalbs mit drei Köpfen", wie Zeitungen spotten, sondern des Homunculus. Hagens mag etwas von der Jahrmarktsbude haben. Doch heute ist vielleicht das Kabinett genetischer Kuriositäten aktueller als die sterilen Galerien mit ihrer ewigen Sinnlosigkeitssuche auf höchstem Reflexionsniveau. Die Leute begeistern sich neuerdings für die Schönheit von Lungenflügeln und Zwerchfellen. Das ist doch ein Anfang.

 

Angelika Willig , Jahrgang 1963, studierte Philosophie und Klass. Philologie in Freiburg und München. Auf dem Forum schrieb sie zuletzt über "Die Zukunft des Lebens" (JF 46/02).


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