© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/02 06. Dezember 2002

 
Jeder muß 200 Euro Kopfprämie zahlen
Sozialpolitik: Rürup-Kommission soll Sozialversicherungssysteme retten / Ministeriumsarbeit wird an Experten delegiert
Jens Jessen

Zu Beginn seiner ersten Regierungsperiode 1998 stellte Gerhard Schröder seine Parteifreundin Christine Bergmann als Ministerin für "Frauen, Familien und das ganze Gedöns" vor. Vor der Wahl im September 2002 verwandelte sich das "Gedöns" dann in eine konkrete Aufgabe: Familienförderung wurde versprochen, denn für den Kanzler ist die "Kindererziehung ... vielleicht die wichtigste Aufgabe in jeder Gesellschaft".

Eine fehlende Familienpolitik hat in der Tat eine vergreisende, kinderarme und Familien benachteiligende Gesellschaft zur Folge, die zu einer Zerstörung des Wohlstands und der Sozialsysteme in Deutschland führt. Das Bundesverfassungsgericht forderte die Regierung mit dem Urteil vom April 2001 auf, Familien bei den Sozialversicherungsbeiträgen zu entlasten, weil diese "wegen der Erziehung zu ihrem Nachteil auf Konsum und Vermögensbildung verzichten."

Ein Strohfeuer vor der Wahl war die Folge. Alle Parteien überschlugen sich mit ihren Versprechungen, Wohltat über Wohltat auf die Familien zu häufen. Doch weder die Roten noch die Schwarzen hatten je die Absicht, ihre Versprechungen zu realisieren. Da aber die Sozialversicherungssysteme wegen einer fehlenden zielgerichteten Familienpolitik zugrunde gehen, sollen jetzt Maßnahmen ergriffen werden, die eine Sanierung von Renten- und Krankenversicherung bewirken.

Bismarck formulierte Kaiser Wilhelm II. die "Kaiserliche Botschaft" im Jahre 1881, die wichtige Vorgaben für den später folgenden Aufbau der dreiteiligen Sozialversicherung - Kranken-, Renten- und Unfallversicherung - enthielt. Dazu bedurfte es eines kleinen Stabes von kreativen Fachleuten im Amt des Reichskanzlers. Und Bismarck war es, der die Sozialgesetze im Reichstag gegen den Widerstand der Liberalen, die ihn als Kommunisten beschimpften, durchsetzte. Heute sind Hunderte von Mitarbeitern im "Superministerium" von Ulla Schmidt nicht in der Lage, grundlegende Änderungen zur Rettung der Sozialversicherungssysteme vorzulegen. Und das, obwohl die Schweiz, die Niederlande und andere EU-Länder vorgemacht haben, wie ein erfolgreicher Umbau aussehen kann.

Außerdem berief 1994 der Bundestag die Enquêtekommission "Demographischer Wandel - Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft an den Einzelnen und die Politik". Deren Reformvorschläge, miterstellt vom Darmstädter Wirtschaftsprofessor Bert Rürup, liegen seit März 2002 vor.

Die Politiker verstecken sich hinter Kommissionen, die Vorschläge erarbeiten. Politiker moderieren dann die Kommissionsergebnisse, ohne sich die Hände schmutzig zu machen. So mußte der Hartz-Kommission für den Arbeitsmarkt eine Rürup-Kommission für Sozialreformen folgen. Warum VW-Personalvorstand Peter Hartz nicht Superminister für Wirtschaft und Arbeit und Rürup nicht Superminister für Renten und Gesundheit ist, liegt wohl daran, daß Sachverstand scheinbar kein Auswahlkriterium für Bundesminister ist.

Rürup hat mit seinem Vorschlag, im Gesundheitssystem eine Kopfpauschale von 200 Euro pro Monat für alle Bürger über 18 Jahre einzuführen, auf den richtigen Knopf gedrückt. Er bezieht sich dabei auf ein Gutachten von Professor Eckhard Knappe von der Uni Trier (ebenfalls Mitglied der Enquêtekommission von 1994), aus dem hervorgeht, daß diese Kopfpauschale für die Finanzierung des Gesundheitswesens ausreicht. Für sozial Schwache soll der Staat einen Ausgleich regeln. Die dadurch verursachten Mehrausgaben des Staates könnten durch Steuermehreinnahmen finanziert werden, da Knappe voraussetzt, daß der Arbeitgeber seinen Anteil zur Krankenkasse (KV) mit dem Bruttogehalt an den Arbeitnehmer auszahlt. Das zu versteuernde Bruttogehalt wird um den Arbeitgeberanteil größer. Die Steuereinnahmen des Staates steigen. Gleichzeitig sinkt der vom Arbeitnehmer zu zahlende KV-Beitrag auf 200 Euro. Das Knappe-Gutachten führt dazu aus: "Die Gegenfinanzierung setzt sich zusammen aus den Einsparungen in der Gesundheitshilfe, dem Wegfall der Zuschüsse zur Krankenkasse von Landwirten im Ruhestand, den Einsparungen durch die Abschaffung des Beihilfesystems und den zusätzlichen Einkommensteuereinnahmen".

Wenn alle Bürger monatlich 200 Euro an die KV zahlen, entfällt die Unterscheidung von gesetzlicher und privater Kasse. Alle KV müssen die Grundsicherung für den Einheitsbeitrag anbieten. Wer zusätzliche Wünsche äußert, hat sich zusätzlich zu versichern. Dieser Vorschlag ist genial. Er kommt aber nicht aus Deutschland. Das Krankenversicherungsgesetz (KVG) der Schweiz sieht eine Grundversicherung vor, die per Gesetz und Verordnungen definiert wird. Die KVs sind zur Aufnahme von Antragstellern verpflichtet und erheben zur Finanzierung der Gesundheitsleistungen eine Einheitsprämie.

Ein Unterschied zwischen dem Knappe-Vorschlag für die Rürup-Kommission und dem Schweizer KVG: für Kinder und Jugendliche ist eine verringerte Prämie zu zahlen. In Deutschland soll die 200 Euro-Prämie erst ab 18 Jahren veranlagt werden. Die Grundphilosophie des Schweizer KVG sieht eine konsequente Trennung der Grundversicherung von den Zusatzversicherungen vor. Warum das personell aufgeblähte Schmidt-Ministerium nicht selber in der Lage ist, das KVG auf seine Folgen zu untersuchen und bisherige Erfahrungen mit diesem System in der Schweiz zu prüfen, wird dem Steuerzahler in Deutschland wohl verborgen bleiben.

Das Wirtschaftswachstum im Jahr 2003 erreicht nicht 2,5 Prozent (Eichel vor der Wahl) oder 1,4 Prozent (Eichel im November), sondern kaum ein Prozent. Da sich die Krankheiten der Versicherten nicht von der Steigerung des Bruttoinlandproduktes beirren lassen, muß mit einer Erhöhung des Defizits im Gesundheitswesen gerechnet werden. Um das Defizit zu beseitigen, wird eine weitere Beitragssatzsteigerung im nächsten Jahr unvermeidlich sein.

Das Beitragssatzstabilitätsgesetz (Vorschaltgesetz) ist ein untaugliches Mittel, daß zu verhindern. Deshalb bleibt der Regierung nichts anderes übrig, als den rheinischen Trott aufzugeben und Politik zu gestalten mit Mut und den Erfahrungen aus dem neutralen Ausland. Andernfalls steigt die Sozialabgabenlast auf über 42 Prozent, trotz Ökosteuerstütze für die Rentenversicherung. Das wäre die Bankrotterklärung der rot-grünen Bundesregierung.


 
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