© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/02 13. Dezember 2002

 
Der holländische Gysi kommt
Niederlande: Premier Balkenende vor erneutem Wahlsieg / Fortuyn-Partei im Sinkflug / Aufstieg der Sozialisten
Jerker Spits

Am 22. Januar werden die Niederländer erneut zu den Wahlurnen gebeten. Die Mitte-Rechts-Ko-alition aus Christdemokraten (CDA), der "Liste Pim Fortuyn" (LPF) und rechtsliberaler Volkspartei (VVD) war im Oktober nach nur 89 Tagen im Amt auseinander gebrochen, nachdem zwei Minister der LPF ihren Rücktritt erklärt hatten. Umfragen zufolge liegen die etablierten Parteien vorne, allen voran die Regierungspartei CDA des Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende. Doch auch die ehemals maoistische Sozialistische Partei (SP) von Jan Marijnissen darf mit hohen Gewinnen rechnen.

Einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts "Interview" zufolge werden die Christdemokraten sich um sechs Sitze auf 49 (über 32 Prozent) im 150köpfigen Parlament verbessern können. Die VVD steigert sich demnach von 24 auf 28 Sitze (über 18 Prozent), dicht gefolgt von den oppositionellen Sozialdemokraten (PvdA): Sie legen von 23 auf 27 Sitze zu (knapp 18 Prozent). Die angestrebte Koalition von CDA und VVD würde mit 77 von 150 Parlamentssitzen nur ganz knapp eine eigene Mehrheit erreichen. VVD und CDA hatten für diesen Fall angekündigt, ohne LPF weiterregieren zu wollen. Sie wollen am "strategischen Dokument" des ersten Kabinetts Balkenende, das auf Initiative der LPF eine härtere Immigrations- und Ausländerpolitik und eine strengere Sicherheitspolitik vorsieht, festhalten.

Bei der LPF sieht der Absturz genauso dramatisch aus wie der Aufstieg zu Beginn des Jahres: von den 26 heutigen Parlamentsmitgliedern können (bei unter fünf Prozent der Stimmen) nur noch sieben mit dem Wiedereinzug in niederländische Zweite Kammer rechnen. Der neue Spitzenkandidat der LPF, der bisherige Integrationsminister Hildebrand Nawijn, trat letzte Woche nach heftiger Kritik an seiner Person zurück. Die Position Nawijns, der sich mit seinen politischen Ideen und durch seine forsche Art in der Vergangenheit ohnehin schon viel Feinde gemacht hatte, wurde unhaltbar, nachdem er sich für die Wiedereinführung der Todesstrafe ausgesprochen hatte. Ministerpräsident Balkenende sprach von einem "merkwürdigen Standpunkt, der nicht in die europäische Rechtsordnung paßt." Mehrere Fraktionen im Parlament verurteilten die Äußerungen Nawijns als "unzivilisiert" und "entsetzlich". Nun wird Mat Herben, Fortuyns ehemaliger Pressesprecher, der als LPF-Chef bereits im Sommer die Koalitionsverhandlungen mit CDA und VVD führte, als Spitzenkandidat antreten.

Ein überraschender Wahlgewinner könnte die Sozialistische Partei (SP) werden, die mit über 13 Prozent der Stimmen die Grünen (Groen Links) und die Linksliberalen (D'66) weit hinter sich lassen würde. Die SP wurde 1972 als eine kleine außerparlamentarische Aufbau-Organisation von Arbeitern, Studenten und ehemaligen Dissidenten der Kommunistischen Partei der Niederlande (CPN, gegründet bereits 1909) und der Pazifistisch-Sozialistischen Partei (PSP) ins Leben gerufen. CPN und PSP lösten sich daher in den achtziger Jahren auf. Mittels einer Profilierung als "Gegen-Partei" hat sich die SP heute eine Position erworben, die "röter" und "grüner" ist als die von Sozialdemokraten und Grünen.

Die Partei präsentiert sich als "Partei der Solidarität" und als "Friedenspartei". Der Kampf gegen Steuersenkungen, Privatisierungen und Einsparungen bei der Daseinsfürsorge steht für sie im Mittelpunkt. Die SP lehnt die Beteiligung an der Nato und militärische Interventionen im Ausland strikt ab. Im Europäischen Parlament ist die SP Mitglied der "Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke" - unter anderem zusammen mit der deutschen PDS und französischen Altkommunisten und radikalen Trotzkistengruppen.

Der heutige Parteiführer Jan Marijnissen, ein gelernter Metallschweißer, profiliert sich als ehemaliger Industriearbeiter, der die Sprache der einfachen Leute spricht. Der 49jährige ist durch seine Bücher und Fernsehauftritte bekannt, und wegen seiner konsequent pazifistischen Haltung mittlerweile auch zum Lieblingskind der linken Intelligenz avanciert - ähnlich wie Ex-PDS-Chef Gregor Gysi, bevor seine "Bonusmeilen"-Affäre bekannt wurde; dies zumal die niederländischen Grünen Militäraktionen seit einem Jahr nicht länger ablehnen. In der alten Industriestadt Oss in Nordbrabant stellt die SP zusammen mit der sozialdemokratischen PvdA die Stadtregierung. Mitregierender Koalitionspartner ist sie seit März 2002 auch in zwei Städten mit über 100.000 Einwohnern an der Grenze zu Nordrhein-Westfalen, in Nijmegen und Heerlen.

Bemerkenswert ist der SP-Standpunkt im Sachen Ausländerpolitik. Auf die Frage, worin der entscheidende Unterschied zwischen der SP und der PvdA oder den Grünen bestehe, antwortete der SP-Vorsitzende von Amsterdam, Wim Paquay, bereits 1998: "Wir sind für die strikte Anwendung der bestehenden Gesetze gegen die illegalen Einwanderer. Die linken PvdA- und Grünen-Politiker wollen immer eine Art Amnestie oder Ausnahmen für Problemfälle. Aber ein solches Vorgehen würde ja noch mehr Ausländer anziehen, viel mehr als auf natürliche Art und Weise in unsere niederländische Gesellschaft integriert werden könnten."

Auch nach der Ermordung Fortuyns hatte sich Parteichef Marijnissen in einer Beileidserklärung auffällig positiv über den Parteigründer der LPF geäußert: "Zu vielen politischen und gesellschaftlichen Problemen in unserem Lande waren wir zu identischen Einschätzungen gelangt, auch wenn wir über die Lösung verschiedener Ansicht waren."

Anders als Grünenchef Paul Rosenmöller und PvdA-Chef Ad Melkert gehörte Marijnissen nicht zu jenen linken Politikern, die Fortuyn im Wahlkampf als gefährlichen Demagogen bezeichneten. Vor einem Monat brachte die SP im Parlament sogar ein Gesetz ein, wonach moslemische Geistliche unter Androhung des Verlustes ihres legalen Status verpflichtet werden, einen Kurs zur "Integration in die niederländische Kultur" zu absolvieren.

Nur so ist zu erklären, daß viele enttäuschte LPF-Wähler sich jetzt der SP zuwenden. Sie schenken der SP, die anders als die "Liste Pim Fortuyn" über eine gefestigte Organisation, ein ausgearbeitetes Programm und eine geschichtliche Tradition verfügt, ihr Vertrauen. Der "Fortuynismus", wie niederländische Zeitungen das Gedankengut des ermordeten LPF-Parteigründers Pim Fortuyn bezeichnen, scheint sich so in zwei Richtungen zu zerstreuen: während die rechtsliberale VVD versucht, sich der traditionell "rechten" Themen Immigration und Sicherheit zu bemächtigen, tritt nun auch auf dem linken Flügel die SP als Partei der "einfachen Leute" für den energischen Abbau der Bürokratie und eine strengere Integrationspolitik ein.

Dabei hat Marijnissen - wie ehemals Fortuyn - den Vorteil, kein Vertreter der verhaßten "politischen Elite" zu sein. Der kometenhafte Aufstieg der SP und die wachsende Popularität des Jan Marijnissen zeigen: die etablierten Parteien in den Niederlanden tun auch nach der "Entzauberung" der LPF gut daran, die Gründe nicht zu vergessen, die zum Aufstieg der Partei geführt haben.

Foto: Sozialisten-Chef Jan Marijnissen auf Wahlplakat: Der Linkspopulist sammelt Stimmen für Frieden und "Sozialen Wiederaufbau"


 
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