© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/02 13. Dezember 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Vergessener Massenmord
Carl Gustaf Ströhm

In Perchtoldsdorf, unweit von Wien, versammelten sich dieser Tage einige Dutzend Menschen an einem schlichten Gedenkstein, der zur Erinnerung an eines der großen Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts errichtet worden ist: die von Stalin und den Sowjetkommunisten zur "Liquidierung der Kulaken" künstlich herbeigeführte große Hungersnot während der Jahre 1932 - 34. Diese Hungersnot kostete allein in der Ukraine, die mit ihrer Schwarzerde zu den fruchtbarsten Getreideanbaugebieten zählt, innerhalb kürzester Zeit vier Millionen Tote.

Opfer waren vor allem die ukrainischen Bauern. Stalins Regime wollte zwei Ziele erreichen: Erstens sollte dem ukrainischen "Nationalismus", der sich während des Bürgerkrieges 1918 - 20 und danach hartnäckig der Sowjetisierung und Russifizierung widersetzt hatte, das Kreuz gebrochen werden. Zweitens aber ging es darum, durch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft zu Kolchosen und Sowchosen den unabhängigen Bauernstand zu eliminieren. Schon Lenin war der Meinung, daß der Bauer, sofern er irgendwie erfolgreich war, den Kapitalismus produziere. Die kommunistische Wahnidee, den Klassenkampf in die Dörfer zu tragen, hatte nicht nur in der Sowjetunion verheerende Folgen, die bis zum heutigen Tag anhalten. Nach 1945 führte die sowjetische Methode in fast allen "Volksdemokratien" zu konstanter Mangelwirtschaft und nicht enden wollenden Notlagen. Unter der Sowjetherrschaft wurde aus einem Getreide-Exportland der weltweit größte Getreide-Importeur, der von US- und kanadischem Weizen und Roggen abhängig war.

Der sowjetische Hunger der dreißiger Jahre war nicht der erste Fall. Schon während des Bürgerkriegs zwischen "Weißen und Roten" sowie in den frühen zwanziger Jahren war es auf dem Gebiet der 1922 gegründeten Sowjetunion zu Hungerrevolten und Bauernaufständen gekommen, die von der Roten Armee erbarmungslos niedergeschlagen wurden. Damals allerdings ließen die bolschewistischen Machthaber wenigstens internationale humanitäre Hilfe zu. Während der Kollektivierung war das unerwünscht: Im Gegenteil, den Besuchern aus dem Westen führte man "Potemkinsche Dörfer" vor. Ein Beispiel unter vielen: Édouard Herriot, damals Chef der französischen Radikal-Sozialisten, bereiste mitten während der Hungersnot, als die Menschen zu Tausenden an den Straßenrändern elend zugrundegingen, die Ukraine - und schrieb, er habe das Land wie einen "Garten mit vollem Ertrag" erlebt, "wunderbar bewässert und gepflegt".

Zur gleichen Zeit versuchten Hunderttausende von Bauern, denen die Sowjetmacht das letzte Saatgut beschlagnahmt hatte, aus den terrorisierten Dörfern in die Städte zu flüchten. Allein in Charkow, der damaligen Hauptstadt der Sowjetukraine, wurden täglich die Leichen von etwa 250 Verhungerten auf dem Straßenpflaster eingesammelt. Es kam immer wieder zu Fällen von Kannibalismus. Bei vielen Leichen war der Unterleib aufgeschlitzt und es fehlte die Leber. Diese galt als besondere "Delikatesse". Während die eigenen Staatsbürger verhungerten, exportierte die Sowjetregierung 1932 etwa 18 Millionen Doppelzentner Weizen ins Ausland - um für den Erlös Maschinen zu kaufen.

Der Völker- und Hungersmord an der Ukraine ist aber kein Medien-Thema - jetzt in Kiew geäußerte Entschädigungsforderungen an Rußland haben - angesichts der Annäherung zwischen Washington und Moskau - derzeit keine Aussicht auf Erfolg. Daß die Frage überhaupt aufgeworfen wurde, sollte nachdenklich machen.


 
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