© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Wo Eis und Feuer sich kreuzen
Eine andere Weihnachtsgeschichte: Vor achthundert Jahren entstand auf Island die Edda
Robert Backhaus

Achthundert Jahre ist es jetzt her, daß auf Island die sogenannte "Edda" entstand, die große, unheimliche Erzählung vom Aufgang und Untergang der germanischen Götter. Die Edda war also kein Originalmythos aus uralten Zeiten, sondern ein Kunstprodukt des christlichen Hochmittelalters, wenn auch ein randlägeriges und ungemein winterliches. Seine Verfasser griffen auf alte Sagenstoffe zurück, formten und reflektierten diese aber unter längst schon christlicher Perspektive.

Zwei Versionen sind bekannt, die sogenannte "Lieder-Edda" aus dem Anfang des dreizehnten Jahrhunderts (in der Germanistik meistens "die ältere Edda" genannt), die aus Gedichten besteht, zum anderen die "Prosa-Edda", die "jüngere Edda" (um 1240), eine Sammlung lehrhafter Texte, die Snorri Sturluson zusammengestellt hat und die deshalb auch einfach als "die Snorri" apostrophiert wird. Ältere Edda und Snorri stimmen aber in ihren mythologischen Aussagen überein wie Homer und Hesiod; sie bilden eine Einheit.

Auch bei ihnen steht am Anfang der Welt das Chaos, die "Gähnung", ein Abgrund, der freilich begrenzt ist und sich das Ganze mit zwei weiteren Anfangskräften teilen muß, nämlich mit Niflheim, dem Eis des Nordens, und mit Mispelheim, dem Feuer des Südens. Das Feuer schmeißt Funken ins Chaos, das Eis poltert Gletscherbrocken hinein, und so entstehen aus dem Chaos zwei Riesen, Ymir, eine wüste, unheildräuende Gestalt, und Buri, etwas weniger scheußlich und nicht ganz so boshaft, mit Anlagen zum Guten.

Neben ihnen aber schält sich aus einem besonders großen Eisbrocken durch die Macht des Feuers höchst wundersam eine Kuh heraus, Audumla, die lebensspendende (sehr ähnlich dem goldenen Kalb bei den Chaldäern), und indem Ymir und Buri an ihrem Euter saugen, werden sie fortpflanzungsfähig und zeugen alle möglichen anderen Riesen, Eisriesen, "Reifriesen", wie es heißt, die sofort übereinander und über ihre Eltern herfallen, genau wie in der griechischen Mythologie die Titanen übereinander herfallen.

Die ersten wirklichen Götter, Wotan, Thor, Freia, Baldur, sind Kinder des Buri, die sich dem Titanenkampf entwinden und endlich eine Art Ordnung schaffen, das heißt sie schlagen ihr Quartier mitten in der Gähnung auf (weshalb es auch "Midgard", Haus der Mitte, heißt), schlagen eine Brücke über den Abgrund, wobei sie sich des Körpers des zunächst kastrierten und anschließend getöteten Ymir bedienen. Aus seinem Schädel bilden sie das überbrückende Himmelsgewölbe, auf dem sie Sitz nehmen, aus seinen struppigen Augenbrauen bauen sie Zäune, mit denen sie Midgard umgeben, so daß zum ersten Mal ein Gehege entsteht, das schützt, hinter dem man sich geborgen und einigermaßen heimatlich fühlen kann.

Aus den Knochen, den Zähnen und dem Fleisch Ymirs bilden die Götter die Erde, direkt unter Midgard gelegen, gleichsam an ihm aufgehängt über dem Abgrund schwebend. Eines Tages gehen sie an der Zäunung von Midgard spazieren und verfallen in spielerischer Laune darauf, aus zwei Eschenstämmen Gestalten nach ihrem Ebenbild zu formen - Menschen.

In der Snorri wird gar davon erzählt, daß die Eschenstämme regelrecht an die Stelle der Gähnung treten, daß die ganze Gähnung von der Weltesche Yggdrasil ausgefüllt wird, so daß von dem ganzen Urchaos "nur" ein Wasserloch übrigbleibt, aus dem die Esche ihre Kraft zieht; das ist der Urbrunnen Urd, der von den "Müttern" bewacht wird, autochthonen Gottheiten, die nichts mit den Göttern in Midgard, den "Asen", zu tun haben und die bekanntlich auch im zweiten Teil von Goethes "Faust" vorkommen.

Die Menschen stehen in einem unverbrüchlichen Bund mit den Göttern und werden von ihnen beschützt; Symbol dafür ist der herrliche Bifröst, der Regenbogen, der sich zwischen Midgard und Erde spannt. Aber leider können sich die Menschen nicht auf die Götter verlassen, denn diese sind nicht allmächtig, ihre segensreiche Herrschaft ist ständig von den Riesen bedroht, aber auch von anderen titanischen, unkontrollierbaren Kräften, den Zwergen zum Beispiel. Alle diese Mächte sind zwar in das eisige Niflheim verbannt, das sich teilweise auch unter der Erde erstreckt, aber sie sinnen unentwegt darüber nach, wie sie zurückkehren und die Götter wie ihre Schützlinge, die Menschen, austilgen könnten.

Walhalla, die Burg, die sich die Götter auf Midgard errichtet haben, ist eine Schutz- und Trutzburg, ein Heerlager, ungemütlich, immer voll im Verteidigungszustand, in voller Rüstung, und die Helden, die dort versammelt sind und ihren Met trinken (das göttliche Bier, das direkt aus dem Stamm der Weltesche fließt), diese Helden sind von dunklen Ahnungen erfüllt, verhängnisschwangere Weissagungen gehen unter ihnen um und verleihen ihrer Existenz einen untilgbar tragischen Zug.

Tief in ihnen lastet ein Bewußtsein der Schuld darüber, daß sie dem originalen Chaos die Ordnung abgezwungen, Midgard, die Erde und die Menschen erschaffen haben. Denn letztlich, so kommt heraus, gelang ihnen das nur mit Hilfe der Zauberin Gullweig, der Erfinderin des Goldes und des Geldes. Die Götter haben sich bei Gullveig verschuldet, in jeder Hinsicht des Wortes, und das war der Keim des Endes schon im Anfang.

Das Gold, das Geld, ist der große Unheilstifter in der Edda-Welt. Seinetwegen werden falsche Eide geschworen, seinetwegen geht man fatale, in Banden schlagende Verpflichtungen ein. Und seinetwegen, wegen des Streits um den Nibelungenhort, den Schatz, den die Zwerge angehäuft haben und den nun sowohl die Riesen wie die Götter unter ihre Kontrolle bekommen wollen, kommt es zum Endkampf, zu jenem wahnsinnigen Gemetzel, das sich zum Untergang der Götter, zur "Götterdämmerung", ausweitet. Wotan tritt gegen den Fenriswolf an und unterliegt. Freia wird von Surt, dem Riesen des Feuers, niedergerungen, Thor erliegt der Midgardschlange.

Und mit den Göttern sterben die Menschen, werden von den Erdbeben und Sturmfluten und den Feuerstürmen, die die Riesen entfachen, vernichtet. Die Erde im ganzen wird vernichtet. Die Brücke über dem Chaos stürzt ein, die Esche Yggdrasil verbrennt. Was einzig bleibt, ist das Seufzen und Klagen der Urmütter, in dem freilich - möglicherweise - auch eine leise Verheißung steckt: daß es nämlich irgendwann nach dieser Welt und nach diesen Göttern und nach diesen Menschen vielleicht einmal eine neue Welt, neue Götter, neue Menschen geben wird, die dem Geld der Zauberin Gullveig zu widerstehen vermögen.

Man sieht, diese Edda ist eine tolle Geschichte, eine Weltbeschreibung, in der man manche Weltweisheit spürt, auch soziale Weisheit, Erkenntnisse über die wahre Beschaffenheit der Menschenwelt, über die ungeheure Macht des Bösen, der Zwerge und des Geldes darin. Richard Wagner hat ein modernes Gesamtkunstwerk aus dieser Geschichte gemacht, hat die Edda gleichsam in Musik gesetzt, und in dieser Musik lebt sie fort und entfaltet Wirkung über die altgermanistischen Proseminare hinaus.

Foto: Walküren bringen gefallene Krieger nach Walhalla (Holzstich nach Friedrich Hottenroth): Verhängnisschwangere Weissagungen


 
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