© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Zivilcourage ohne Netz und doppelten Boden
Vor 190 Jahren handelte Yorck von Wartenburg die Konvention von Tauroggen aus - ohne Rücksprache mit dem preußischen König
Stefan Scheil

Wer heute beiläufig von Zivilcourage spricht, der denkt nicht unbedingt an Preußen. Es wäre auch merkwürdig in einer Zeit, in der es schon als ein Ausdruck von Zivilcourage gilt, sich in einen Demonstrationszug einzuordnen, an dessen Spitze das Staatsoberhaupt steht.

Der preußische Weg sah anders aus. Wie anders, das zeigt sich etwa an der Vorgeschichte eines jener spektakulären deutsch-russischen Verträge, mit denen dann und wann die politische Landschaft Europas über den Haufen geworfen wurde. Zum einhundertneunzigsten Mal jährt sich dieser Tage die Konvention von Tauroggen, die den Anfang vom Ende der napoleonischen Ära und den Beginn der Freiheitskriege markiert. Ein preußischer Offizier hat sie abgeschlossen, gegen die geschriebenen Befehle, nur seinem Gewissen und seinem politischem Instinkt verpflichtet. Besondere Zeiten bringen üblicherweise außergewöhnliche Verhältnisse. Selten aber ist die Lage so brisant gewesen, wie im Dezember 1812, als Ludwig Graf Yorck von Wartenburg dem preußischen König lapidar mitteilte, "es ist Pflicht, diese nie wieder zurückkehrenden Verhältnisse zu benutzten".

Als einziger Teil der Armee hatten die Preußen im Sommer zuvor gegenüber Napoleon das Hoch auf den Kaiser verweigert, waren beim Marsch auf Moskau vielleicht auch deshalb buchstäblich links liegengelassen worden und durften in Litauen und Kurland als Besatzungsmacht fungieren. Was jetzt im Dezember 1812 aus Rußland zurückkam, waren nur traurige Reste der Großen Armee, und es waren vorwiegend Franzosen, wie Napoleon später gegenüber Metternich betonte. Er habe darauf geachtet, daß beim Unternehmen Rußland vorwiegend Deutsche, Polen und Italiener verlorengehen, also habe er praktisch nichts verloren. Verfolgt wurden Napoleons Truppen von einer russischen Armee, die auch nicht in wesentlich besserem Zustand war. Obwohl mit außergewöhnlichen Fähigkeiten zum Winterkrieg ausgestattet, hatten auch die russischen Truppen unter der extremen Kälte und Unterversorgung gelitten. Plötzlich stellten also die siebzehntausend ausgeruhten Preußen unter Yorcks Befehl eine militärische Größe dar.

Persönliche Wahl zwischen Frankreich und Rußland

Das machte die Entscheidung nicht leichter, die jetzt zu treffen war, aber es rückte die von der französischen Politik sorgfältig kleingestutzten Reste der preußischen Militärmacht unerwartet in den Mittelpunkt der europäischen Politik. Seit Wochen wurde Yorck mit russischen Angeboten traktiert, den Kampf an französischer Seite gar nicht erst aufzunehmen. Napoleon konterte persönlich mit dem Lockmittel, den Preußen Yorck zum Marschall Frankreichs zu ernennen. Militärisch gesehen galten klare Befehle, die Yorck dem französischen Marschall MacDonald unterstellten. Aus Berlin kam nichts, was diesen Umstand etwa geändert hätte, obwohl Yorck gleich die erste schriftliche russische Aufforderung zum Überlaufen mit einem Schreiben dem König selbst gemeldet hatte. Der Hohenzollernhof schwieg und beobachtete das ähnliche Taktieren der Regierung in Wien. Allerdings hatte Österreich weder französische Truppen im Land, noch standen russische vor dem Einmarsch. In Preußen ließ sich dagegen die Entscheidung nicht aufschieben und es stellte sich am Ende heraus, daß sie von Yorck persönlich und in Eigenverantwortung getroffen werden mußte.

Es dauerte bis zum 30. Dezember 1812. Dann war Yorck zu einem Neutralitätsvertrag mit Rußland bereit, der Konvention von Tauroggen, die in der Stadt an der preußisch-russischen Grenze mit dem russischen General Diebitsch ausgehandelt wurde. Der Soldat der preußischen Monarchie nahm sich die Freiheit, seinem König diesen Weg auch zu empfehlen: "Ich spreche hier die Sprache eines alten treuen Dieners; und diese Sprache ist fast die allgemeine der Nation". Der preußischen Monarchie "ist es vorbehalten, der Erlöser und Beschützer Ihres und aller deutschen Völker zu werden". Yorcks Satz ist ein Beispiel für den speziellen preußischen Weg, über Pflichterfüllung zur Souveränität zu finden und zu einer Zivilcourage, die dem König selbst gelegentlich sagen kann, was die Pflicht ist. Es war eine Zivilcourage ohne Netz und doppelten Boden und führte in diesem Fall zu einem entscheidenden Frontwechsel.

Foto: Sechs Wochen nach der Konvention von Tauroggen ruft Yorck von Wartenburg die preußischen Stände zum Widerstand gegen Napoleon auf: Ich spreche die Sprache der Nation


 
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