© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Neue Technologien: Neurophilosophie
"Die Kausalität ist eine Gehirnfunktion"
Angelika Willig

Zugegeben gibt es zu dieser Kolumne nicht allzu viele Leserbriefe. Neulich aber kam einer, der uns mit einer interessanten Entwicklung bekannt machte. Ohne es zu wissen, hatten wir uns mit einem Beitrag über PSI-Phänomene (JF 40/02) mitten in der laufenden Diskussion über Neurophilosophie plaziert. Und dazu noch - wenigstens nach Meinung des Lesers - auf der falschen Seite.

Neurophilosophie ist ein Thema, bei dem sich kluge Menschen heute richtig ereifern können. Auf den Internet-Foren gewinnt man den Eindruck, daß die Philosophie vielleicht doch noch lebendig ist - jedenfalls wenn man sie ordentlich piekst. Gerhard Roth und Georg Northoff, um nur zwei Namen zu nennen, sind selbst philosophisch ausgebildet und behaupten auf Grund ihrer naturwissenschaftlich anerkannten Hirnforschungen, daß das Denken, der Geist, das Bewußtsein, wie immer man es nennen will, sich restlos auf biochemische Vorgänge im Gehirn zurückführen ließe. Natürlich können sie das nicht beweisen. Keiner kann bisher auch nur annähernd erklären, aus welchen Stoffwechselprozessen beispielsweise der Glaube an die Jungfrau Maria hervorgeht. Aber immerhin hat die Hirnforschung bereits eine Region ausgemacht, die bei religiösen Zuständen besonders aktiv ist. Psychiater heilen Patienten, die sich einbilden, Jesus Christus zu sein, mit hochdosierten Neuroleptika. Es muß also wohl einen Zusammenhang zwischen Hirnchemie und Bewußtsein geben. Das streiten die unverbesserlichen Philosophen nicht einmal ab. Sie trauen den Naturwissenschaften sogar zu, eine empirisch verifizierbare Theorie zur Entstehung religiöser Gedanken und Gefühle zu erarbeiten. Empirisch verifizierbar könnte heißen, wie in der Kolumne von den PSI-Phänomenen beschrieben wurde, bestimmte Hirnregionen gezielt zu reizen. Doch selbst wenn eine geistige Entität auf ein biochemisches Modell lückenlos zurückzuführen wäre, so sagen die Philosophen, so wären beide noch nicht identisch, ja, sie hätten eigentlich gar nichts miteinander zu tun. Wenn zum Beispiel der Sexualtrieb sich evolutionsgenetisch auf den Selektionsvorteil einer reichen Nachkommenschaft zurückführen läßt, ist die menschliche Liebe damit nicht erklärt. Und wenn der Geisteskranke in seinen Visionen, wie etwa Van Gogh, bildhafte Wahrheiten entdeckt, dann sind diese mit dem Hinweis auf eine erhöhte Dopaminkonzentration an den Neuronen keineswegs gedeutet. Immer wieder gern, scheint uns, spielen die herzlosen Naturwissenschaftler einerseits, die schwärmerischen Kulturmenschen andererseits ihre altbewährten Rollen. Erfrischend wirkt hier der Physiker Antonio Damasio: "Finden wir erst einmal heraus, was Materie genau ist", sagt er, "und dann lassen Sie uns über Immaterielles reden." Je schärfer sie hinsehen, desto mehr schwindet den Materialisten ihre Materie unter den Händen hinweg. Und am Ende sind Geist und Materie gleich unfaßbar.


 
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