© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    52/02 20. Dezember 2002 / 01/03 27. Dezember 2002

 
Die Unerwachsenen
von Werner Olles

Der amerikanische Lyriker und Erzähler Robert Bly vertrat in seinem 1997 erschienenen Buch "Die kindliche Gesellschaft. Über die Weigerung erwachsen zu werden" die These, daß die westlichen Wohlstandsgesellschaften nicht allein "durch die kapitalistische Erwerbsgier entstellt werden, sondern auch durch ein geradezu debiles Mißtrauen gegenüber den Errungenschaften von Religion, Literatur und Philosophie, kurz gegenüber allem, was wir vergangenen Generationen verdanken". Viele "Halberwachsene" wären heute der Überzeugung, "daß ihnen die Tradition nichts Brauchbares geschenkt habe". Die Wahrheit vergangener Zeiten laute jedoch, daß "der einzelne in der Schuld aller anderen Menschen, der Lebenden und der Toten, steht, und nicht nur der Menschen, auch der Pflanzen, Tiere und Götter".

Wenn also die Krise am Anfang des 21. Jahrhunderts eine Krise der Werte als solche ist, und wir auf das zutreiben, was Freud in seinen "Kulturtheoretischen Schriften" die "reine Herrschaft des Todestriebs" nennt, liegt dies zu einem erheblichen Teil ganz offensichtlich daran, daß wir unsere Fähigkeit, zur Reife zu gelangen, verloren haben. Man spaziere nur einmal durch eine beliebige deutsche Großstadt und achte auf den jugendlich-naiven Ausdruck in den Gesichtern der Passanten aller Altersstufen. Oder man betrachte sich Fotos von Männern und Frauen, die vor fünfzig Jahren gelebt haben und deren physiognomische Merkmale ihr Alter und ihr Erwachsensein eindrucksvoll bestätigen. Man sieht auf diesen Bildern Menschen, die sich gewiß auch zu amüsieren verstanden, aber dennoch stets mit beiden Beinen mitten im wirklichen Leben standen. Und rufen wir uns die eigene Kindheit und Jugend ins Gedächtnis zurück, dann erinnern wir uns, daß es uns damals kaum schnell genug gehen konnte, erwachsen oder zumindest älter zu werden.

Hinzu kommt das Phänomen der Scheinselbständigkeit. In den fünfziger und sechziger Jahren lebte die überwiegende Mehrzahl der jungen Leute Anfang zwanzig noch im Elternhaus. Die Berufstätigen unter ihnen gaben einen Teil ihres Einkommens als Miet- und Essenszuschuß ab. Inzwischen bestehen siebzehnjährige Schüler auf einer eigenen Wohnung, nur für die Miete und die anfallenden Nebenkosten sollen gefälligst die Eltern oder das Sozialamt aufkommen. Derart großzügig alimentiert kann man seine Scheinselbständigkeit durchaus einige Jährchen unbeschwert genießen, sich in seinem Selbstbetrug gemütlich einrichten und rundum sauwohl fühlen.

Die Straße in der Siedlung am Stadtrand, in der wir leben, gehört jeden Samstag zwischen 15 und 17 Uhr den Rollschuhläufern. Mit Sturzhelm, Ellbogen-, Knie- und Schienbeinschützern bestens gegen alle Risiken ihres kindlichen Vergnügens abgesichert, rollen sie fröhlich dahin. Das Phänomen an der Sache ist, daß es sich bei den fröhlichen Rollern keineswegs um Kinder oder Halbwüchsige handelt, sondern um Erwachsene zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren, die dem Zwang zur Popularität, den die kindliche Gesellschaft mit ihrer Offenheit für die Banalitäten der Pop-Kultur, ihrer ökonomischen Unsicherheit und ihrer Zerstörung der Höflichkeit ohne jede Gegenwehr nur allzu gerne nachkommen.

Wenn wir abends den Fernseher einschalten, beginnen wir langsam zu verstehen, warum eine Gesellschaft, die von ewigen Jugendlichen geführt und regiert wird, sich derartig verhält. "Das Fernsehen ist das Contergan der modernen Gesellschaft" schreibt Robert Bly, und Karl Marx würde sein Verdikt gegen die Religion als "Opium des Volkes" heutzutage mit Sicherheit entsprechend ändern: Das Fernsehen ist längst zum Opium des Volkes geworden. Etwa ein Drittel ihrer wachen Zeit verbringen Kinder heute vor dem Bildschirm. Über zehn Prozent lesen überhaupt nicht mehr, und nur ein Fünftel aller Abiturienten ist in der Lage die für ein Universitätsstudium erforderliche Literatur zu bewältigen. Von den angehenden Pädagogen gestand in einer vor wenigen Jahren durchgeführten Studie ein Viertel "schon immer mit dem gedruckten Wort auf Kriegsfuß gestanden zu haben". Wissenschaftlich bewiesen ist heute, daß das Fernsehen genau jene Fertigkeiten des menschlichen Gehirns nicht ausbildet, die später für gute Leser notwendig sind: Sprache, aktives Denken, Beharrlichkeit und innere Kontrolle.

Im westlichen Kulturkreis haben Kinder und Erwachsene jahrhundertelang Musik gelernt, indem sie solche Musik hörten, die die vorangegangene Generation geliebt hatte, ob es nun Volkslieder, Opern, Operetten, Mozart, Bach oder einfache Tanzmusik war. Nachdem die Musikindustrie dahinter kam, daß sich Riesengewinne damit scheffeln lassen, wenn jede Generation ihre eigene Musik hört, war es mit dieser Konvergenz vorbei. Gegen die neuen Stars der Massenunterhaltung hatten die Eltern keine Chance. Dieser blitzartige Schachzug der Unterhaltungsindustrie, die Stelle der Eltern einzunehmen, verlief ziemlich reibungslos und kam vor allem so rasch, daß keiner ihm wirkunsgvoll entgegentreten konnte. Es kam jedoch noch schlimmer. An die Stelle romantischer und von Liebesleid und Einsamkeit erzählenden Balladen und der zärtlich-verspielten Texte der Beatles, denen man selbst als Erwachsener noch etwas abgewinnen konnte, traten Hard-Rock und später "Gangster-Rap", dessen Texte offenen Haß auf Frauen artikulieren, mit Mord und Vergewaltigung kokettieren und zu brutaler Gewalt aufrufen. Wenn man weiß, daß inzwischen bereits Sechs-, Siebenjährige diese Musik hören, deren in frühkindlichem Lallen hervorgestoßene Gewalt-Parolen ebenso wie das unzurechnungsfähige Techno- und Hard Rock-Gedröhn jederzeit in ein primitives Pogrom umschlagen können, wundert man sich über die spektakulären Massenmorde in unseren Schulen überhaupt nicht mehr.

Die Gehirnforschung weiß heute, daß die von Kindern und Jugendlichen am häufigsten gehörte Musik mit ihrem hämmernden Rhythmus vor allem von der rechten Gehirnhälfte verarbeitet wird, die das Stück als Ganzes hört und nicht in seine Teile zerlegt und hinterfragt. In der Folge versetzt sich das Gehirn in einen Alpha-Zustand, der aktives Denken und Lernen unmöglich macht und die Individuen bis zur offenkundigen Ichlosigkeit regrediert. Genau dies ist aber die beste Voraussetzung, sich den ausgefransten, furchterregenden und halbwahnsinnigen Werten der infantilisierten Spaß-Gesellschaft widerstandslos anzupassen.

Einem Reisenden im Mittelalter, der sich Paris oder Straßburg näherte, stand klar vor Augen, daß an diesen Orten die Seele eines Menschen den höchsten Wert besaß. Wenn wir uns heute, ob von der Autobahn oder mit dem Zug kommend - um nur ein Beispiel zu nennen - Frankfurt am Main nähern, sehen wir zunächst die Wolkenkratzer des Bankenviertels. Die Manager der Konzerne interessieren sich inzwischen eher für die Generation junger Inder, die als zukünftige Computerspezialisten heranwächst oder junger Indonesier, die für die günstige Fertigung von Mikrochips interessant sind, als für die Jugend im eigenen Land. Diese jungen Philippinos, Indonesier und Inder haben in der Tat noch gelernt, daß sie Teil einer Gemeinschaft sind, und daß sie ihre Kindheit und Adoleszenz nicht auf Dauer beliebig verlängern können. Unsere Jugendlichen erwarten hingegen, daß ihre Bedürfnisse hier und jetzt erfüllt werden. Das Bewußtsein, in einer gesellschaftlichen Struktur zu leben, die aus Sorgen und Mühen, Triebverzicht, Arbeit, Verantwortung und uneingelösten Schulden gegenüber Gott und ihren Nächsten besteht, ist ihnen gänzlich abhanden gekommen.

Haß und Verbitterung, die zwischen der politischen Linken und der politischen Rechten eines Landes herrschen, der Konflikt zwischen den Generationen und der Krieg zwischen den Geschlechtern, sind ebenfalls deutliche Zeichen einer infantilen Gesellschaft. Mitte der sechziger Jahre brachen Familienregeln zusammen, die seit Jahrhunderten relativ unangefochten gegolten hatten. Tatsächlich geschah dies nicht nur in den kapitalistischen Gesellschaften des Westens, sondern auch dort, wo Fernsehen und Wohlstand noch nicht angekommen waren. In der Volksrepublik China stürzten die "Roten Garden" im Verlauf ihrer Kulturrevolution die fundamentalen Werte des Konfuzianismus in einem Ausmaß, von dem die westlichen Achtundsechziger nicht einmal zu träumen wagten. Gut ein Drittel der reichen kulturellen Erbschaft Chinas - darunter unersetzbare Schriften, Bilder, Gebäude, Skulpturen und Keramikarbeiten - wurde damals mutwillig zerstört. Noch weitaus blutiger und gewalttätiger ereignete sich das gleiche Phänomen ein paar Jahre später in Kambodscha.

Seit Ende des 20. Jahrhunderts leben die Halberwachsenen hingegen in einem Zustand ausdrucksloser Gefestigtheit, von spektakulären Ausnahmen abgesehen, ohne organisierte Gewaltausbrüche, aber auch ohne Spontaneität und Kreativität. Die Hauptaufgabe ihrer deformierten Psyche besteht darin, mit Drogen, Alkohol und beziehungslosem Sex ihre Wut und ihre Trauer über den Zustand des psychischen Elends, in dem sie zu leben gezwungen sind, zu betäuben.

In unserer gegenwärtigen Gesellschaft hat der Erwerbs- und Konsumkapitalismus auf der ganzen Linie gesiegt. Wie alle Kolonisatoren begann auch er sein Zerstörungswerk am Wertesytem des unterworfenen Volkes und endete mit der Demontage aller tradierten Kultur. An diesem Punkt stehen wir heute. Wir sind die erste Kultur der Geschichte, die sich selbst kolonialisiert hat. Wir haben kein Zentrum und keine geistige Mitte mehr, die wir lieben, verehren, anbeten und fürchten, denn wir haben Gott auf den Müllhaufen befördert.

Als die Rolling Stones 1969 in Altamont ihr "Sympathy for the Devil" sangen und die Hells Angels synchron dazu einen jungen Schwarzen erstachen, roch die Luft nach Schwefel und das Licht glänzte schaurig und dämonisch über den psychedelischen Wolken. Diese psychedelischen Verführer schufen eine Hölle, in der die Jungen durch den Konsum von Drogen nicht nur symbolisch ermordet wurden. Die amerikanischen Indianer sahen damals beispielsweise mit Entsetzen, daß junge Weiße ohne die Anwesenheit und Begleitung von erfahrenen Älteren, die imstande gewesen wären, ihre Seelen vor bösen Geistern zu schützen, LSD und Peyote schluckten. Auch die Zerstörung des Ältestensystems in Kambodscha, wo Alte, Lehrer, Künstler, Priester, Mütter und Väter in den siebziger Jahren millionenfach gezielt getötet wurden, und die Ermordung von Älteren in Somalia, waren nur der Auftakt für kommende Barbarei.

Wir wissen seit langem, daß das Bedürfnis nach Ordnung unter sogenannten Normalbürgern durchaus terroristisch werden kann. Daß das primäre Bedürfnis nach Lust und Spaß unter Vergnügungssüchtigen ebenfalls terroristische Ausmaße annehmen kann, weiß man spätestens seit der Etablierung der Love-Parade. Andererseits sind ihre Anhänger im gewissen Sinne die logische Folge der Achtundsechziger-Rebellen. Anders als authentische Revolutionäre in kommunistischen Diktaturen oder in Latein-Amerika, die Gefängnis oder Folter immer auch als eine selbstverständliche Konsequenz ihres Widerstands betrachteten, hatten die Achtundsechziger den Wunsch von Halberwachsenen nach schranken- und folgenlosen Aktionen. In diesem Wunschdenken wurden sie von ihren Lehrern und Mentoren noch bestärkt, und die Bewegung brach zusammen, als der damals noch nicht gänzlich entkernte Staat mit aller Vorsicht und großer Milde die Ordnung wieder herzustellen versuchte.

Die kulturelle Linke verschweigt heute, daß das heillose Chaos, das sie anrichtete, die Kolonialiserung unserer Kultur und das Abgleiten in unkontrollierbare Zustände und kapitalistische Profitgier nach Kräften förderte. Anstatt über den erlittenen Verlust zu trauern, was angebracht wäre, hat die infantile Gesellschaft eine falsche Lustigkeit zu ihrem obersten Prinzip erhoben, die sie mit flackernden Augen als neue Weltanschauung ausgibt. Damit ist sie aber auch auf dem letzten Punkt der Idiotie angekommen. Unfähig, die gesellschaftlichen Ursprünge ihres Leidens durch die verschleierte Sozialisierung der Jugend zu erkennen, wird das eigene Elend im Rückzug in immer absurdere mediale Simulationen zum Privatismus stilisiert. Die Kleinanzeigen in linken und ex-linken Stadtmagazinen sprechen mit ihrem narzistischen Gestammel wahrlich Bände.

In der Kultur der amerikanischen Indianer herrschte die Überzeugung, daß man vor jeder Entscheidung deren Folgen bis in die siebte Generation überdenken sollte. Ein anderes Beispiel für vertikales Denken ist die Vorstellung, daß gleichzeitig mit uns ein spiritueller Zwilling geboren würde. In Rußland sind gewisse Züge dieser schönen Tradition noch erhalten, dort wird der Name mit einem Heiligen geteilt und bei Geburtstagsfeiern Kerzen für den Zwilling angezündet. In der infantilen Gesellschaft feiert die Masse als inszenierte Moden- und Fleischbeschau nur noch sich selbst, und längst fühlt sich dabei keiner mehr dem anderen gegenüber verpflichtet. Wenn wir die halberwachsenen Gesichter der Polit-Pop-Kultur betrachten, wird klar: Einig ist man sich hier nur noch im Haß auf die Vergangenheit. Dieser Haß ist jedoch, wie der große kolumbianische Philosoph Nicolás Gómez Dávila schreibt, "ein eindeutiges Symptom einer Gesellschaft, die verpöbelt."

 

Werner Olles war 1968/1969 Mitglied im Sozialistischen Studentenbund (SDS). 1977 kehrte er der Linken den Rücken. Heute lebt er als Publizist in Frankfurt am Main.


 
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