© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/03 10. Januar 2003


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Kompetenzen
Karl Heinzen

Es mag sein, daß die Anhängerschaft der Sozialdemokraten dramatisch schwindet. Ihrer Kompetenz, die wirtschaftliche Entwicklung korrekt zu beschreiben, wird aber in der Bevölkerung zunehmend Vertrauen geschenkt. Einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts forsa zufolge rechnen 60 Prozent der Bürger damit, in diesem Jahr über weniger Geld als im Vorjahr verfügen zu können. Nichts anderes hat ihnen der Bundeskanzler zur Jahreswende versprochen.

Die allermeisten Menschen ziehen daraus die Konsequenz, die ihnen schon vor einigen Wochen Franz Müntefering ans Herz gelegt hat: 81 Prozent wollen Abstriche am täglichen Konsum, 62 Prozent am Urlaub vornehmen. Auf dieses Nachfragesignal werden manche Branchen mit sinkenden Preisen reagieren. Da sie auf der anderen Seite mit steigenden Kosten rechnen, dürften weitere Rationalisierungen die Folge sein. Die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung stößt also selbst dort, wo sie auf den ersten Blick einer Konsumflaute den Weg ebnet, Modernisierungen an.

Auch im neuen Jahr ist der Abbau von Arbeitsplätzen, deren Inhaber zuviel verdienen, unverzichtbar. Die Hartz-Gesetze schaffen die Rahmenbedingungen dafür, daß Menschen unkomplizierter eine Beschäftigung finden können, deren Bezahlung unter dem von ihnen gewohnten Niveau liegt. Da zugleich die Neigung wächst, Geld, zum Beispiel für das finanziell ungesicherte Alter, zurückzulegen, haben die privaten Haushalte eine gute Entschuldigung dafür, daß sie nichts zu einer konjunkturellen Wiederbelebung beitragen können.

Die Einschränkung des privaten Konsums wird, anders als dies noch vor wenigen Jahrzehnten zu befürchten gewesen wäre, nicht mit einer generellen Abnahme der individuellen Lebenszufriedenheit einhergehen. Dieses Phänomen wird sich vielmehr auf die vertretbare Zahl derjenigen beschränken, die die Hauptlast der Modernisierung zu tragen haben. Da die autochthone Bevölkerung im Durchschnitt immer älter wird, sinkt das Bedürfnis, sich Lebensqualität durch unnötige Konsumausgaben zu erkaufen. Die Beweglichkeit nimmt ab, und das Erfahrungswissen, was man im Alltag wirklich braucht, wächst. Auch langlebige Güter werden erst dann ersetzt, wenn sie nicht mehr funktionieren - und nicht, wenn Statusdenken und Einflüsterungen der Werbung suggerieren, sie seien technologisch überholt. Die Leistungen, die alte Menschen tatsächlich benötigen, sind öffentlicher Natur. Das Gewicht ihrer Wählerstimmen wird aber die Politik davon abhalten, unüberlegte Einsparungen im Gesundheits- und Pflegebereich vorzunehmen.

Die Immigranten wiederum, die die Lücken schließen, kommen mit einer Anspruchshaltung zu uns, die unsere Wirtschaft nicht überfordert. Mit ihnen läßt sich eine Klassengesellschaft durchsetzen, die nicht als solche empfunden wird. Einwanderungs- statt Bevölkerungspolitik ist eine Prioritätssetzung, die einen konfliktfreien Wandel unseres Landes ermöglicht.


 
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