© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    03/03 10. Januar 2003

 
Die Lüge holt uns ein
von Klaus Motschmann

Die Auseinandersetzungen um den sogenanntenWahlbetrug der SPD, die in der Forderung der CDU/CSU nach Einsetzung eines neuen Untersuchungsausschusses gipfeln, zielen wieder einmal am Kern der wirklichen Probleme unseres Volkes vorbei - und zwar bewußt, wenn man nicht komplette politische Ahnungslosigkeit der Hauptakteure unterstellen will. Und das sollte man nicht. Tatsächlich konstituierte sich dieser Ausschuß kurz vor Weihnachten. Anfang Januar nimmt er seine Arbeit auf.

Niemand kann ernsthaft bestreiten, auch nicht die SPD, daß die Aussagen führender Sozialdemokraten zur Kassenlage der öffentlichen Haushalte und zu den möglichen Konsequenzen der Finanzmisere vor der Bundestagswahl deutlich anders gelautet haben als danach. Dazu stellen sich selbstverständlich zahlreiche Fragen, die der Klärung bedürfen. Sie stellen sich allerdings nicht nur an die SPD, sondern auch - und vielleicht noch dringlicher - an diejenigen in Gesellschaft und Politik, die jetzt den Protest gegen die SPD so lautstark vertreten. Sie sollten sich im Interesse ihrer Glaubwürdigkeit an die "Drei-Finger-Regel" Gustav Heinemanns erinnern: Wer mit dem ausgestreckten Zeigefinger anklagend auf einen anderen weist, auf den weisen drei Finger zurück. Dazu gehört zunächst die naheliegende Frage, wie es möglich war, daß die SPD in dem jetzt behaupteten Ausmaß die Öffentlichkeit über die tatsächliche wirtschaftliche und soziale Situation täuschen bzw. belügen konnte. Die Antwort lautet kurz und bündig: weil sie sich der veröffentlichten Meinung sicher sein durfte. Oder was hat der "investigative" Journalismus getan, um die Erkenntnisse, die er heute nach der Wahl verbreitet, dem Volk vor der Wahl zu vermitteln?

Selbst wenn es stimmen würde, daß die maßgebenden Mediokraten und (V)ideologen von angeblich neuen Fakten ebenso überrascht worden sein sollten wie das Volk, so lassen sich ihre jetzigen Jeremiaden damit nicht erklären. Sowohl die allgemein bekannte Tatsache, daß der Schuldenstand der öffentlichen Haushalte kurz vor der Wahl 1,25 Billionen Euro betrug und pro Sekunde (sic!) um 1.333 Euro kontinuierlich wächst, als auch die Tatsache, daß die Arbeitslosenzahl während der ersten Amtsperiode Schröders nicht unter die von ihm selbstgesetzte Marke von drei Millionen gesenkt werden konnte, hätten bei entsprechender publizistischer Aufbereitung vollkommen ausgereicht, um keinerlei Illusionen hinsichtlich einer zweiten Kanzlerschaft Schröders aufkommen zu lassen. Nach menschlichem Ermessen deutet nichts auf einen Stop dieser rasanten Entwicklung hin, so sehr dieser Eindruck mit jeder neuen außerparlamentarischen Kommission (Hartz, Rürup usw.), mit jedem neuen Parlamentarischen Untersuchungsausschuß und mit sonstigen parteitaktischen Rochaden auch geweckt werden soll. Bedarf es zur Feststellung dieser Tatsachen eines aufwendigen parlamentarischen Untersuchungsausschusses?

Damit soll der vermeintliche oder tatsächliche Wahlbetrug der SPD nicht relativiert oder gar bagatellisiert werden. Es soll lediglich - wieder einmal - an einige Mindeststandards im Prozeß der politischen Meinungs- und Willensbildung erinnert werden, die in der bisherigen Auseinandersetzung kaum beachtet wurden.

Diese Erinnerung ist deshalb notwendig, weil viele (nicht alle) Medien in dem berechtigten Verdacht stehen, durch besonders forsche Kritik am Wahlkampf der SPD von ihrem eigenen kläglichen Versagen abzulenken. Sie gerieren sich plötzlich als Wahrheitsfanatiker und täuschen auf diese Weise die Öffentlichkeit in sehr viel schlimmerer Weise, als es die SPD beziehungsweise einzelne SPD-Politiker mit ihren "Lügen" getan haben. Sie verdrängen nämlich die Tatsache, daß sie über viele Jahre hinweg entscheidend dazu beigetragen haben in Deutschland ein Meinungsklima zu erzeugen, in dem derartige Machenschaften überhaupt erst erfolgreich praktiziert werden können. Sie bestätigen die Erfahrungen aus Geschichte und Gegenwart, daß man auch mit der Wahrheit insofern lügen kann, als man wichtige Tatsachen zur Vorgeschichte und zum Verständnis der Probleme unserer Zeit nicht bewußt macht:

Die rot-grüne Koalition verdankt ihren Wahlsieg also nicht den Lügen der SPD, sondern der massiven publizistischen, intellektuellen und kirchlichen Unterstützung dieser Partei - trotz der bekannten katastrophalen Ergebnisse ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Dafür gibt es triftige Gründe, die aus naheliegenden Gründen aber so gut wie gar nicht beachtet werden. Die rot-grüne Koalition war nämlich in anderen Bereichen der Gesellschaft und Politik durchaus "erfolgreich" - wenn auch nicht im Sinne der Mehrheit unseres Volkes, dafür aber der Mehrheit der Volksvertreter, ihrer intellektuellen Sympathisanten und publizistischen Assistenten: in der soliden Konsolidierung der Ergebnisse der 68-er Kulturrevolution nämlich. Wie gründlich die 68-er das Meinungsklima diktieren, läßt sich daran erkennen, daß man sich allen möglichen groben Verdächtigungen aussetzt, wenn man daran erinnert, daß wichtige Schlüsselpositionen in Gesellschaft und Politik noch immer von 68-ern besetzt gehalten werden.

Die Erfolge diese "Langen Marsches durch die Institutionen" erklären sich nicht nur aus der Angst vor der angedrohten Gewalt, sondern in erheblichem Maße aus dem taktischen Prinzip der Unterwanderung durch List und Lüge. Aus der Fülle von Beispielen sei nur an das Konzept der Unterwanderung der evangelischen Kirche durch die "Sozialisten aller Landeskirchen" erinnert. "Wir kämpfen nur darum", erklärt die "Celler Konferenz sozialistischer Vikare 1969, "mit Hilfe des kirchlichen Machtapparates mitwirken zu können an der Zerschlagung des Kapitalismus. Wir werden, jeder für sich, versuchen, in die Kirche einzusickern. Wir werden daher die Kirchleitungen belügen, so wie sie das Kirchenvolk belügen. In Zukunft wird man nie wissen, ob nicht im schwarzen Rock ein Roter steckt, ein Wolf im Schafspelz."

Entsprechend verhielten sich die "Sozialisten" bei der Landnahme in anderen gesellschaftlichen Bereichen: in den Kindergärten, Schulen und Universitäten; in den Fernseh-, Rundfunk- und Zeitungsredaktionen, in den Lektoraten der Verlage und so weiter. Wie viele bewußte Meineide, wie viele bewußte Täuschungen haben in Deutschland am Anfang beruflicher Laufbahnen gestanden und das öffentliche Meinungsklima vergiftet, Vertrauen zersetzt und Mißtrauen verbreitet.

Es soll nicht bestritten werden, daß sich viele 68-er in den täglichen Auseinandersetzungen mit den Realitäten unseres Daseins gewandelt haben. Es sollte allerdings auch nicht bestritten werden, daß sich viele gerade wegen dieser Auseinandersetzungen nicht gewandelt haben, so sehr auch ihre Ausdrucks- und Umgangsformen, ihre äußere Erscheinung und ihr sogenannter Lifestyle diesen Eindruck vermitteln sollen und auch tatsächlich vermitteln. Sie fühlen sich auf ihren inzwischen erreichten C-4 und A-15 Positionen nach wie vor gedrängt, auf ihrem 1968 eingeschlagenen Weg in eine sozialistische Welt voranzuschreiten. Auch der Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus vor nunmehr 13 Jahren hat sie nicht veranlaßt, den bisherigen Weg kritisch zu überdenken und daraus realistische Konsequenzen für die Zukunft zu ziehen. Ganz im Gegenteil.

Nach einer relativ kurzen Phase der Irritation als Reaktion auf den unerwarteten Mauerfall haben namhafte Intellektuelle alles daran gesetzt, die wissenschaftlich hinreichend widerlegte politische Zwecklegende von der "Entartung" des Sozialismus durch die kommunistischen Herrschaftssysteme zu popularisieren - ganz so, wie man es aus der Agitation der 68-er in den siebziger und achtziger Jahren gewohnt war. Es erwies sich damit sehr schnell, daß zwar der realexistierende Sozialismus in den Ostblockstaaten an das Ende seiner Möglichkeiten gekommen war, aber nicht der irreale Sozialismus in den Köpfen - genauer: in den Herzen - deutscher Intellektueller, mit dem sich bereits Karl Marx und Friedrich Engels ebenso energisch wie vergeblich auseinandergesetzt haben. Eine treffliche Erklärung für diese Gemütsverfassung lieferte Friedrich Nietzsche: "Denn so ist der Mensch: ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein - gesetzt, er hätte ihn nötig, er würde ihn immer wieder für 'wahr' halten."

Wenn man aber etwas für 'wahr' hält, was nicht wahr ist, sondern "tausendfach widerlegt" ist, dann werden die Grenzen zur bewußten Lüge verwischt. Die Wirklichkeit wird nicht mehr gesehen, wie sie ist, weil man sich am "Dunsthimmel der philosophischen Phantasie orientiert" (Karl Marx). Es ist aufschlußreich, daß ein Sammelband vornehmlich christlicher Autoren kurz nach der sogenannten Wende unter dem Titel "Der Traum aber bleibt" erschien. Sozialismus als Traum - wie immer man zu dieser Auffassung steht: ein Beitrag zu wahrhaftiger Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den gegenwärtigen Herausforderungen dieser Ideologie ist sie gewiß nicht. Sie trägt viel zur Verklärung und nur sehr wenig zur Klärung der wesentlichen Elemente des Marxismus/Sozialismus bei.

Auch an dieser Stelle stellt sich die Frage nach der Verantwortung der Medien, Verlage, Hochschulen und sonstigen Bildungseinrichtungen, die heute Wahrheit in der politischen Auseinandersetzung einfordern und dafür die Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen als ein geeignetes Mittel zur Bewältigung dieses Problems empfehlen. Wer oder was hindert sie eigentlich, damit in ihrem eigenen Verantwortungsbereich zu beginnen und das agenda setting der 68-er endlich einmal merklich zu durchbrechen? Die Liste der von ihnen gesetzten Tabuthemen ist inzwischen sehr lang und begünstigt bewußte Desorientierung, Irreführung und Lüge im Prozeß der politischen Urteil- und Willensbildung in bedrohlichem Maße.

Die teilweise sehr kritischen Auseinandersetzungen mit dem alten Sozialismus, die es nach der Wende in diesen Kreisen auch gegeben hat, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, daß sie sich in der Regel auf die vermeintlichen Entartungen, kaum aber auf die wesentlichen Kernaussagen des Sozialismus bezogen haben. Wenn es einen falschen Sozialismus gibt, von dem alle Welt spricht, dann muß es logischerweise auch einen "wahren", "authentischen" Sozialismus geben. Aber wo wäre er verbindlich definiert? Es kennzeichnet unsere sogenannte politische Streitkultur, daß sie keine Bemühung um eine verbindliche Definition wichtiger politischer und ideologischer Begriffe erkennen läßt, so daß eine verantwortungsbewußte Auseinandersetzung gar nicht möglich ist beziehungsweise gar nicht möglich sein soll. Lügen, Verheimlichungen und Täuschungen, die dann zu Enttäuschungen führen, sind eine vielleicht nicht immer bewußt beabsichtigte, aber dennoch folgerichtige Konsequenz.

Was immer auch unter dem Begriff Sozialismus konkret verstanden werden soll: das Ziel der Überwindung der bürgerlichen Staats- und Gesellschaftsordnung verbindet die Sozialisten stets über alle ideologischen und politischen Differenzen hinweg zu gemeinsamen Aktionen, Bündnissen und schließlich Koalitionen. Sie haben sich vor allem im "Kampf gegen Rechts" gebildet und bewährt - und das heißt für die 68-er im Kampf gegen das System, weil es für sie zwischen dem System und dem Faschismus allenfalls quantitative, aber keinesfalls qualitative Unterschiede gibt. Deshalb kann der Kampf gegen den Faschismus nur als Kampf "gegen das System" geführt werden, daß ihn immer wieder hervorbringt.

Bert Brecht, eine der unumstrittenen Leitfiguren der politischen und intellektuellen Linken, hat dazu in seinem kleinen Essay über die "Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit" bemerkt: "Der Faschismus kann nur bekämpft werden als Kapitalismus, als nacktester, frechster, erdrückendster und betrügerischster Kapitalismus. Wie will nun jemand die Wahrheit über den Faschismus sagen, gegen den er ist, wenn er nichts gegen den Kapitalismus sagen will, der ihn hervorbringt?" Der "Aufstand der Anständigen gegen Rechts" richtet sich also nur in einem sehr vordergründigen Sinne gegen bestimmte Gruppen, als vielmehr gegen das System, das diese Gruppen hervorbringt und ihnen verfassungsmäßige Rechte zukommen läßt. Was ist in diesem Kampf bisher gelogen, diffamiert und denunziert worden! Es genügen die Stichworte "Sebnitz" und "V-Mann-Affären" des Verfassungsschutzes, die für viele andere Inszenierungen zum Zwecke der Täuschung unseres Volkes stehen. Das ist die eigentliche und entscheidende Herausforderung, weil auf diese Weise ein System aufgebaut wird, in dem angeblich Faschismus nicht mehr möglich ist - allerdings auch keine Freiheit mehr. Denn, so Arnold Gehlen im Schlußabsatz seines Buches "Moral und Hypermoral" (1969): "Teuflisch ist, wer das Reich der Lüge aufrichtet und andere Menschen zwingt, in ihm zu leben. Das geht über die Demütigung der geistigen Abtrennung noch hinaus, dann wird das Reich der verkehrten Welt aufgerichtet. Der Teufel ist nicht der Töter, er ist Diabolos, der Verleumder, ist der Gott, in dem die Lüge nicht Feigheit ist wie im Menschen, sondern Herrschaft. Er verschüttet den letzten Ausweg der Verzweiflung, die Erkenntnis (...)" Der "Lügenausschuß" des Bundestages sollte sich dieser Zusammenhänge bewußt sein und sie vor allem unserem Volke bewußt machen.

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte bis zu seiner Emeritierung Politische Wissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen