© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/03 17. Januar 2003


In Erwartung des Angriffs
Reportage: Ein JF-Mitarbeiter bereist den nach zehn Jahren Embargo sturmreifen Irak des Saddam Hussein / Teil I
Peter Lattas

"DDR"-Stimmung kommt auf, wenn man die Abfertigungsprozedur an der Grenze des Irak über sich ergehen läßt: Die schäbigen sozialistischen Zweckbauten, das Heer von wichtigen Grenzbeamten mit schier unendlichen Zeitreserven, Propagandaplakate und Personenkult auf Schritt und Tritt. Wer hier ohne offizielle Einladung passieren will, muß nicht nur viel Geduld mitbringen, sondern sich auch auf die hohe Kunst des "Bakschischgebens" verstehen.

Nach zwei blutigen Kriegen und zehn Jahren Embargo ist der Irak vom Musterländle unter den Ölstaaten zum Entwicklungsland geworden. Das Pro-Kopf-Jahreseinkommen der 23 Millionen Iraker liegt bei 289 Dollar; die Vereinten Nationen setzen die Armutsgrenze bei 360 Dollar an. In keinem ölausführenden Land der Welt sind die Menschen ärmer als im Irak. Für das stolze Land zwischen Euphrat und Tigris, das in den siebziger Jahren einen überraschenden Aufstieg erlebte, weil es anders als viele Scheichtümer seine Petrodollars zu einem großen Teil in den konsequenten Aufbau von Infrastruktur und Bildungswesen investierte, war das ein bitterer Absturz.

Schon die stundenlange Fahrt durch die endlose Sand- und Geröllwüste von der jordanischen Grenze bis in die Hauptstadt Bagdad vermittelt einen Eindruck vom einstigen Wohlstand. Hinter dem Schlagbaum erweitert sich die elende jordanische Wüstenpiste zu einer Musterautobahn, wie sie ebensogut in Bayern oder Niedersachsen stehen könnte, wäre da nicht die Mondlandschaft ringsum. Tatsächlich hat die gut 500 Kilometer lange Betonrennbahn ein deutsches Tiefbauunternehmen Ende der achtziger Jahre realisiert - samt Standardbrücken und -auffahrten und Rastplätzen, an denen freilich trotz der festmontierten Sonnenschirme niemand in der gnadenlosen Hitze sich niederlassen will.

Das Land lebt seit zwanzig Jahren von der Substanz

Es war eines der letzten ehrgeizigen Infrastrukturprojekte, das die Führung in Bagdad aus ihrem Ölreichtum finanzieren konnte. Dann kam die Invasion Kuwaits und der zweite Golfkrieg. Seither, fast zwölf Jahre lang, wird der Irak vom gnadenlosesten Embargo, das seit der englischen Hungerblockade gegen das deutsche Kaiserreich über ein Land verhängt wurde, langsam aber sicher stranguliert.

"DDR"-Stimmung: Ein Land vor dem Zusammenbruch, das zwanzig Jahre lang von der Substanz gelebt hat und jetzt nicht mehr kann. Als wäre vor zwei Jahrzehnten die Zeit stehengeblieben: Die altertümliche Kommunikationstechnik in den Hotels, die Plastik-Interieurs in den Bars, selbst die Lastzüge waren mal in den siebziger Jahren modern. Und die moderne Autobahn nach Jordanien ist zum seidenen Faden für den Personen- und Warenverkehr geworden, der sich in mühseliger Zehn-Stunden-Fahrt durch die Wüste quält: Das Flugverbot, das Amerikaner und Briten eigenmächtig über den Norden und Süden Iraks verhängt haben, macht zivile Flüge von und nach Bagdad faktisch unmöglich, wenn man sich nicht einen der teuren und raren Plätze in den offiziell als "humanitär" deklarierten Flügen der "Jordanian Airlines" leisten kann.

Unmittelbar nach dem irakischen Einmarsch in Kuwait hatte der UN-Sicherheitsrat mit seiner Resolution 661 am 6. August 1990 ein umfassendes Wirtschaftsembargo verhängt, von dem lediglich Lebensmittel, Medikamente und vom "Komitee 661", das aus den Mitgliedern des Sicherheitsrats besteht, freigegebene humanitäre Güter ausgenommen sein sollten. Die "Waffenstillstandsresolution" 687 vom 3. April 1991 knüpfte die Aufhebung der Sanktionen nicht mehr an den Rückzug Iraks aus Kuwait, sondern an die international überwachte Zerstörung aller irakischen Massenvernichtungswaffen. Seit Dezember 1996 ist, nach mehreren von Bagdad abgelehnten Anläufen, das Programm "Öl für Lebensmittel" in Kraft, das dem Irak limitierte Ölexporte erlaubt, um vom Erlös dringend benötigte Güter einzukaufen. Alle Importe müssen indes vom "Komitee 661" genehmigt werden. Was irgendwie militärisch genutzt werden kann, ist tabu.

Die UN-Sanktionen treffen nahezu jeden in diesem Land, das seit über zehn Jahren in einer Art dauerndem Belagerungszustand lebt - vom Zeitungsverleger, der wegen Papiermangels nur noch ein Zehntel der früheren Auflage drucken kann, bis zum Familienvater, der die Seinen nur mit Hilfe der subventionierten Lebensmittelrationen durchbringt. Auf das Lebensmittelkartensystem ist man stolz - auch bei der UNO sei es als eines der besten der Welt anerkannt, sagt Fakhaldin Rashan, Generaldirektor im Handelsministerium. Jedem Einwohner garantiere der Lebensmittelkorb zum symbolischen Preis von 250 Dinar (etwa 0,15 Euro) einen Monat lang täglich 2.400 kcal an Grundnahrungsmitteln.

Der Irak leidet unter der Flucht des geistigen Potentials

Dennoch fehlt es an allen Ecken und Enden. Wasser- und Nahrungsmittelversorgung, Hygiene und Gesundheitswesen leiden unter dem Embargo ebenso wie Bildungswesen und Wissenschaft, Forschung und kultureller Austausch. Für die Iraker, deren gut ausgebildeter Mittelschicht einmal die ganze Welt offenstand, ist es schwer zu ertragen, daß Auslandsreisen kaum noch erschwinglich und Visa für westliche Länder fast unmöglich zu bekommen sind. Das Internet bietet kaum Ersatz; mißtrauisch läßt die Regierung nur einen einzigen staatlich kontrollierten Server zu ("uruklink.net"), die Anschlußgebühren sind hoch. Satellitenschüsseln sind verboten, für die Masse der Iraker sind die drei Kanäle des Staatsfernsehens die einzige Informationsquelle.

Viele, denen sich die Gelegenheit bot, haben sich abgesetzt; irakische Wissenschaftler bevölkern die Universitäten der ganzen arabischen Welt. Dem "brain drain", der Ausdünnung der Eliten durch Abwanderung und Nachwuchsmangel, steht die Verarmung der breiten Massen und der meist im verborgenen genossene Reichtum weniger gegenüber. "Die Sanktionen haben den Irak entprofessionalisiert", kritisierte schon vor Jahresfrist der deutsche UN-Diplomat Hans von Sponeck, der anderthalb Jahre das "Öl für Lebensmittel"-Programm geleitet hatte.

Ein Besuch im "Saddam-Hussein-Kinderkrankenhaus" ist Pflichtprogramm für jede ausländische Delegation im Irak. Rund tausend kleine Patienten kommen täglich in das 360-Betten-Hospital, etwa hundert werden zur Behandlung aufgenommen. Klinikchef Dr. Al Dilami und der junge Arzt Dr. Khalid Khelil führen durch ihr Krankenhaus, in dem nicht nur der Fahrstuhl schon lange nicht mehr funktioniert, und berichten von ihren Nöten: Von krebskranken Kindern, die nicht austherapiert werden könnten, weil die benötigten Medikamente nur unregelmäßig einträfen, weil Ersatzteile für Geräte und Sterilisatoren nicht beschafft werden könnten. Kinder müßten sterben, weil das "Komitee 661" wichtige Importe blockiere, klagen die Ärzte. Westliche Beobachter relativieren dies, machen innerirakische Organisationsmängel für die Misere mitverantwortlich. Doch auch sie räumen ein, daß es schikanöse Importverbote unter dem Vorwand des "dual use", der gleichzeitigen zivilen und militärischen Verwendbarkeit einzelner Komponenten, gegeben habe. Mit der jetzt beschlossenen Erweiterung der Liste verbotener Komponenten um rund 60 Posten wurde die Garrotte weiter zugezogen: Der Warenverkehr dürfte nach dieser Maßnahme praktisch völlig zum Erliegen kommen.

Bis zu 1,6 Millionen Menschen sollen nach irakischen Angaben mittelbar oder unmittelbar durch das UN-Embargo ums Leben gekommen sein. Das mag hoch gegriffen sein; doch auch eine UNICEF-Studie räumt ein, daß die Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit im Irak sich seit Verhängung der Sanktionen mehr als verdoppelt hat. Denis Halliday, früherer UN-Verantwortlicher für humanitäre Hilfe im Irak, geht für die Jahre 1990-1998 von über einer Million Todesopfern aus, davon allein 600.000 Kinder unter fünf Jahren.

Die irakische Führung hat in den letzten Jahren Wege gefunden, sich mit dem Sanktionsregime einzurichten. Die Versorgungslage hat sich kontinuierlich verbessert. Wer es sich leisten kann, bekommt für Dollars alles - vom zollfrei ins Land geschafften Computer bis zur exklusiven medizinischen Behandlung in einer der neuen Privatkliniken.

Das Programm "Öl für Lebensmittel" ermöglicht lebenswichtige Importe, bleibt aber ein Investitionshindernis. Wie die Erlöse aus dem Ölexport von bis zu zehn Milliarden Dollar pro Halbjahresphase verwendet werden, bestimmt weitgehend das "Komitee 661". Ein beträchtlicher Anteil wird für Reparationen an Kuwait und für die Kosten der UNO-Präsenz abgezweigt. Fast vierzig Prozent der Erlöse seien das, behauptet Generaldirektor Rashan vom Handelsministerium, während man für humanitäre Importe nur ein Drittel der Einnahmen habe ausgeben dürfen. Fertig ausgehandelte Lieferverträge in Milliardenhöhe, etwa mit Rußland und Frankreich, lägen wegen der Willkür des Sicherheitsrats-Komitees auf Eis.

Frei verfügbare Finanzmittel kann das Regime sich nur auf grauen Kanälen beschaffen - durch staatlichen oder privaten Schmuggel. Bei der Umgehung der Sanktionen genießen die irakischen Geschäftsleute einigen Freiraum. Der Schwarzhandel blüht, und im Handelsministerium zuckt man verschmitzt die Achseln: Der "border trade" an all den Wüstengrenzen sei nicht zu kontrollieren. Daß die Fahrer der alten Tank­laster, die mit "legaler" Ölfracht auf der Wüstenautobahn nach Jordanien jagen, in der Regel noch eine Privatration mitführen, die sie jenseits der Grenze unter der Hand verkaufen, ist offenes Geheimnis und kaum verwunderlich - kosten doch hundert Liter Benzin im Irak ganze zwei US-Dollar, in Jordanien das Zwanzigfache.

Um ein stärkeres deutsches Engagement wird massiv geworben. Vor dem Krieg Handelspartner Nummer eins für Zivilgüter, bewegt sich das Volumen des deutschen Irak-Geschäfts heute unter ferner liefen. Deutschland, das wegen seiner Enthaltsamkeit im Golfkrieg einen guten Ruf in der Region hat, ist Wunsch-Handelspartner. "Wir machen gerne Geschäfte mit den Deutschen, bei ihnen ist ein Wort ein Wort, wir haben viel gemeinsam", schwärmt man uns vor. Aber Deutschland leide am "amerikanischen Fieber", mutmaßt ein Bagdader Intellektueller im Privatgespräch: es wolle sich wohl stärker engagieren, habe aber Angst vor den USA. Frankreich jedenfalls, beobachtet man im Irak, dränge sich offensiv ins Geschäft und habe auch seine diplomatische Präsenz, anders als die Deutschen, beachtlich ausgebaut.

Den zweiten Teil lesen Sie in der JF-Ausgabe 5/02 nächste Woche.


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