© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    04/03 17. Januar 2003

 
Lebensorientiert lernen
von Heiner Hofsommer

Das Lamento über die mangelnde Bildung der Jugend begann schon im alten Griechenland. Und zahllose Reformen sind über die Schulen hinweggegangen, ohne daß es etwas Wesentliches daran geändert hätte, daß stets der einzelne auslöffeln muß, was Pädagogen ihm vorsetzen. Und daß das meistens nicht genügt, um im Leben voranzukommen. Jeder muß sich seinen Weg selbst bahnen und sollte die Bildungsinstitutionen so nützen, wie es Ernst Jünger für Publikationsorgane vorschlug, als "Autobus", von dem man sich mitnehmen läßt, um auszusteigen, sobald die Richtung vom eigenen Ziel wegführt. Vielleicht ist das Internet für die "Kids" deshalb so verlockend, weil es diese Mobilität zumindest vorgaukelt. Wer darauf aus ist, den wird man nicht ohne weiteres in starre Lehrpläne und einen festen Stundenplan spannen können. So sind die Disziplinschwierigkeiten, die Lehrer heute häufiger als jede andere Berufsgruppe zu Krankschreibungen oder gar frühzeitiger Berentung zwingen, auch auf gesellschaftliche Größen zurückzuführen, die außerhalb des reinen Bildungsthemas stehen. Bei einer allgemeinen Privatisierung, Individualisierung und nicht zuletzt der finanziellen Schwäche des Staates darf man sich über den Verfall des staatlichen Bildungssystems nicht wundern. Dennoch ist es wichtig, konkrete Forderungen zu formulieren.

Was heute von einer leistungsorientierten Schule verlangt werden muß, ist abrufbares Grundlagenwissen und keine "Kuschelecken" zum Diskutieren. Die Wirtschaft kritisiert zu Recht die Beliebigkeit der Unterrichtsinhalte. Von einem Lehrstellenbewerber muß gefordert werden, daß er sinnerfassend lesen, grammatisch und orthographisch richtig schreiben und ein komplexes Thema bearbeiten kann, daß er ziel- und leistungsorientiert arbeitet, Lern- und Arbeitstechniken beherrscht, höflich, verläßlich, tolerant und teamfähig ist. Diese eigentlich trivialen Fähigkeiten beherrschen viele Schulabgänger heute nicht mehr.

Schule muß auch einer immer wieder auftretenden Disziplinlosigkeit wirkungsvoll begegnen können. Wer in der Erziehung keine Widerstände aufbaut, keine eindeutigen Grenzen setzt, nicht deutlich macht, wo Entgegenkommen und Toleranz aufhören, weckt und fördert die egoistischen und zerstörerischen Instinkte. Sie bereiten den Nährboden für alle möglichen Formen von Gewalt. Daher hat der Staat dafür zu sorgen, daß den Lehrerinnen und Lehrern wieder Kompetenzen und Mittel in die Hand gegeben werden, die es ihnen ermöglichen, bei Bedarf wirksame eigenverantwortliche Maßnahmen und Sanktionen zu ergreifen.

Schule muß zur Leistungsfähigkeit erziehen, wenn sie ihre Schülerinnen und Schüler gut bilden und ausbilden will. Leistung erfordert Anstrengung. Anstrengung muß nichts Unangenehmes sein, muß nicht Druck und Widerwillen erzeugen. Sie macht im Gegenteil Freude, wenn sie richtig motiviert wird. Grundvoraussetzung hierfür ist, daß derjenige, der sich anstrengt, auch eine Bestätigung für seine Mühe erhält. Jedes Kind sollte in der Schule Erfolg erleben können, immer aber Anerkennung und Zuwendung durch die Lehrerin bzw. durch den Lehrer, damit es gerne zur Schule geht und damit es sich gern um eine gute Leistungen bemüht.

Diese Erziehung zur Leistungsfähigkeit muß den Menschen nehmen, wie er ist, als unvollkommenes Wesen mit seinen unterschiedlichen Neigungen, Begabungen und Fähigkeiten. Eine solche Erziehung bemüht sich darum, die verschiedenartigen Begabungen entfalten zu helfen; sie verwirft daher die ideologische und letztendlich utopische Gleichmacherei. Nur eine begabungsgerechte Schule, die in ihrer Erziehung die verschiedenartigen Anlagen und Fähigkeiten bejaht und darauf positiv antwortet, ist wahrhaft human.

Integrierte Gesamtschulsysteme sind schulorganisatorischer Unsinn. Man kann nicht die unterschiedlichsten Begabungsrichtungen in einer Lerngruppe unterrichten. Immer mehr Lehrerinnen und Lehrer stellen Effektivität, Leistungsfähigkeit und pädagogische Möglichkeiten von Förderstufe und integrierter Gesamtschule in Frage. Ernstzunehmende wissenschaftliche Einrichtungen wie das Max-Planck-Institut untermauern inzwischen diese Feststellung. Auch die in den integrierten Gesamtschulsystemen vorherrschenden und teilweise bis zum Exzeß betriebenen Arbeitsformen wie Freiarbeit, Gruppenarbeit, Projektarbeit, offener Unterricht und andere Versatzstücke einer modernistischen Spiel- und Arbeitspädagogik sind eher pädagogischer Firlefanz als Bausteine des systematischen Lernens.

Industrie- und Handelskammern, die sich von der GEW wohltuend abhebenden Lehrerverbände wie der Deutsche Lehrerverband und der Verband Bildung und Erziehung haben immer wieder darauf hingewiesen, mit welch großen Defiziten integrierte Gesamtschulsysteme aufwarten. Sie halten zu Recht den Zielkonflikt von sozialer Integration, individuelle Förderung und sozialem Lernen für ein nicht zu lösendes Dilemma.

Wenn in der Bildungspolitik von Gleichheit die Rede ist, dann kann sie nur als ein für alle geltendes Zugriffsrecht auf Bildung zu verstehen sein. Wer mit Freiheit Ernst macht, kann Gleichheit nicht im Sinne von Gleichmacherei verstehen und darf Gleichheit nicht als Resultat und Ziel von Bildungspolitik kennzeichnen. Wer Freiheit sagt, muß Leistung, Differenzierung und damit die Unterschiedlichkeit der Menschen anerkennen. Wer die unterschiedlichen Neigungen, Begabungen und Fähigkeiten fördern will, muß ein Bildungssystem anbieten, das durch Pluralität und Differenzierung Wettbewerbs- und Leistungsbezug geprägt ist. Es ist doch eine Binsenweisheit, daß eine arbeitsteilige Gesellschaft und ein gegliedertes Schulwesen einander entsprechen. Daher muß sich die Schule auch immer am Beschäftigungssystem orientieren.

Fordern und Fördern sind keine Gegensätze, sie bedingen einander. Hochbegabte verdienen ebenso Förderung wie Durchschnittsbegabte oder weniger Begabte. Wer Leistung entzieht, der entzieht Freiheit und gibt gerade dem einzelnen nicht die Chance, sich zu entfalten. Rot-grüne Bildungsideologen versuchen, Gleichheit durch eine Inflation von Berechtigungen herzustellen. Doch nicht Berechtigungen sind gefragt, sondern Qualitätsmerkmale der einzelnen Bildungsgänge. Die Leistung des Stärkeren bedarf der Bindung an eine Solidarität mit jenen, die der Hilfe und der besonderen Förderung bedürfen. Nicht für alle Kinder die gleiche Schule, sondern für jedes Kind die richtige Schule, lautet das Postulat einer modernen Bildungspolitik.

Wenn die Rot-Grünen den Leistungsbegriff weiter diffamieren, dann wird mit einer falsch verstandenen Gleichheitsideologie im Bildungssystem an den Bedürfnissen unseres Staates vorbeiproduziert. Der Steuerzahler, der das Bildungssystem finanziert, hat einen Anspruch darauf, daß mit seinem Geld leistungsorientiert umgegangen wird. Bildungspolitik ist dann schlecht, wenn immer mehr höhere Abschlüsse auf Kosten von Leistungssenkung verteilt werden. Die Gleichheitsapostel ignorieren die Tatsache, daß die Menschen unterschiedlich angelegt sind und das Beschäftigungssystem unterschiedlich organisiert ist. Nicht bloß die größtmögliche Verteilung von Zugangsberechtigungen muß das Ziel der Bildungspolitik sein, sondern ebenso die Vergabe von differenzierten Abschlüssen, die in ihrer Wertigkeit den differenzierten Anforderungen unserer Gesellschaft Rechnung tragen.

Zu den Leistungsträgern einer Gesellschaft gehören nicht nur Akademiker. Es gibt in den Geisteswissenschaften viele Veröffentlichungen, die keinen Bezug zur Wirklichkeit haben und somit entbehrlich sind. Was so manche Psychologen, Politologen, Soziologen, aber auch Pädagogen an sogenannten wissenschaftlichen Theorien entwickelt haben, ist unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Relevanz als absurd zu bezeichnen.

Ein Handwerksmeister, der mit seinem gesunden mittelständischen Betrieb seinen Beitrag zum Bruttosozialprodukt leistet, gehört ebenso zu den Leistungsträgern wie ein Professor, dessen wissenschaftliche Spitzenleistung unabdingbare Voraussetzungen für die Fortentwicklung unseres volkswirtschaftlichen Standards ist.

Das Qualitätsmerkmal "Made in Germany" hat doch seinen Ursprung darin, daß tüchtige Handwerker, Ingenieure und Wissenschaftler gemeinsam dazu beigetragen haben, daß aus dem größten Trümmerhaufen der Weltgeschichte der modernste Staat Europas geschaffen wurde. Diesen Standard müssen wir halten und dürfen ihn nicht durch Vertreter aus ideologischen Traumwelten aufs Spiel setzen.

Viele an den integrierten Gesamtschulen arbeitende Lehrer der 68er-Generation und ihrem linken Zeitgeist verbundene Nachahmer treten nur noch als "Agonten" der Sozialisation und als "Moderatoren" von Lernprozessen auf. Anstatt in der Rolle als Lehrerpersönlichkeit den jungen Menschen eine lebensbejahende Grundeinstellung zu vermitteln, versuchen sie, via Schule globale und permanente Kritik in die Gesellschaft zu transportieren. Ja, sie gießen ihren Lebenspessimismus über die jungen Leute aus und machen sich ein Vergnügen daraus, die Wirklichkeit, die immer Mängel hat, in Grund und Boden zu reden. Das wirkt zerstörerisch und hemmt den Leistungswillen der jungen Generation. Dies alles hat mit Lebenstüchtigkeit, deren Vermittlung die eigentliche Hauptaufgabe von Schule ist, nichts zu tun.

Auch in einem Europa, wo nationalstaatliche Elemente zurücktreten, behält die Loyalität gegenüber Volk und Staat prägende Kraft. Die Erinnerung an geschichtliche Schuld und geschichtliches Verhängnis berechtigt nicht dazu, der Jugend die Möglichkeit zur deutschen Identität vorzuenthalten und den reichen Beitrag Deutschlands zur Weltkultur durch die Verengung des Blicks auf zwölf Jahre Nazidiktatur zu verdunkeln.

Schule kann sich nicht nur nach Bildungsabschlüssen definieren, sondern nach der Qualität der Bildung, der Erziehung und der Vermittlung von Werten und Haltungen. Daher hat sich Unterricht als ein Vorgang zu verstehen, in dem Wissen und Können absichtlich und systematisch vermittelt und erworben werden. Dazu gehört es auch, daß den Schülern einsichtig gemacht wird, daß Rechte und Pflichten miteinander zu korrespondieren haben.

Schule muß deutlich machen, daß Selbstverwirklichung allein dem Leben noch keinen Sinn gibt. Eine Solidargemeinschaft kann es nur geben, wenn auch übergeordnete Maßstäbe gelten. Daher dürfen nicht nur Selbstentfaltungswerte in den Mittelpunkt der Erziehung zur Mündigkeit gestellt werden, sondern auch die Pflicht- und Akzeptanzwerte. Schülern muß einsichtig gemacht werden, daß es neben Rechten auch Pflichten gibt, die einfach akzeptiert werden müssen.

Junge Menschen suchen und brauchen Antworten auf die Fragen nach dem Sinn und Ziel ihres Lebens. Erziehung und Bildung müssen darauf tragfähige Antworten geben. Das wichtigste Erziehungsziel ist es, unseren jungen Menschen eine lebensbejahende Grundeinstellung zu vermitteln. Dazu bedarf es auch der Darstellung positiver Leitbilder, damit Jugendliche trotz unübersehbarer Widersprüche mit sich selbst eins bleiben.

Kritikfähigkeit wird heute groß geschrieben, und Kritik ist in der Tat notwendig. Doch sie setzt realitätsgerechte Lebensgrundlagen voraus. Dazu gehört die Frage nach den religiösen Bindungen ebenso wie die Frage nach Heimat und Nation. Wird dies vergessen, sind Bindungslosigkeit und Manipulierbarkeit die Folgen. Daher müssen allgemein verbindliche Werte den jungen Menschen wieder ins Bewußtsein gerückt und vermittelt werden; Werte, die ihnen immer häufiger fremd oder gar unbekannt sind.

Schule hat den Auftrag, sich neben den Eltern mit größerer Entschiedenheit der Aufgabe der Erziehung zuzuwenden. Der Staat hat die Aufgabe, die Schulen konsequenter als bisher bei der Erfüllung dieses Auftrages zu unterstützen. Erziehung kann nur gelingen, wenn sie über die Verfassungstreue hinaus übereinstimmenden Werten und Zielen verpflichtet bleibt. Solche Werte sind etwa die Erfurcht vor Gott und Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen, Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn, Selbstvertrauen und Eigenverantwortung, Bereitschaft zur eigenen Anstrengung und Leistung, Hilfsbereitschaft und Höflichkeit, Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit, Toleranz und Aufgeschlossenheit, Vaterlandsliebe und Weltoffenheit.

Diese Wertmaßstäbe drücken eine Haltung aus, die für das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft von grundlegender Bedeutung sind, sie machen den jungen Menschen lebenstüchtig. Dazu gehören auch die Arbeitstugenden wie Zuverlässigkeit, Ordnung, Pünktlichkeit, Ausdauer und Sorgfalt.

Eine leistungsfähige Schule ist eine Lern- und Erziehungsinstitution. Zu der erzieherischen Aufgabe der Schule gehört unter anderem, daß Kinder und Jugendliche lernen, sauber, gewissenhaft und zuverlässig zu arbeiten. Ordentlichkeit und Sauberkeit machen Freude. Schlampigkeit und Nachlässigkeit bereiten Ärger. Schriftpflege ist keine Nebensächlichkeit: Sie erzieht zur Ordnung, Ausdauer, Genauigkeit, aber auch zur Rücksichtnahme gegenüber den anderen, die das Geschriebene lesen sollen.

 

Heiner Hofsommer war bis 2002 Schulleiter in Hessen und früher Schulamtsdirektor. Sein Buch "Mißstände in Bildung, Erziehung und Politik" ist 2002 im Aton-Verlag, Unna, erschienen.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen