© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    05/03 24. Januar 2003

 
Der Hinterhof einer neuen Weltmacht
Im derzeitigen Krisenstaat Venezuela stießen vor einhundert Jahren die Interessen Deutschlands und der USA aufeinander
Ronald Gläser

Fernab vom Nahostkonflikt befindet sich Venezuela seit Wochen in Aufruhr. Regierung und Opposition kämpfen um die Macht in dem gebeutelten lateinamerikanischen Land. Der Zufall will es, daß dies genau einhundert Jahre nach der Venezuela-Krise geschieht, die zur Jahreswende 1902/03 für schwere Verwerfungen im Verhältnis der USA zum Deutschen Reich sorgte. Derart, wie sich heute der Konflikt zwischen Deutschland und den USA um den Irak dreht, so gerieten beide Nationen damals wegen Venezuela aneinander. Dies lädt zum Vergleich mit diesem vergessenen Konflikt ein, der vor hundert Jahren an den Rand des Krieges führte.

Die Ursache für die transatlantische Verstimmung war die mangelnde Zahlungsbereitschaft der Venezolaner gegenüber europäischen Gläubigernationen. 1901 hatte der Revolutionsführer Castro die Macht in Caracas ergriffen. Seitdem wurden die internationalen Verbindlichkeiten nicht mehr beglichen. Deutschland und Großbritannien, die beiden wichtigsten Gläubiger, stellten am 7. Dezember 1902 ein Ultimatum. Zwei Tage später verhängten beide Kolonialmächte eine Seeblockade. Küstenforts beschossen deutsche Schiffe, die das Feuer erwiderten. Der Höhepunkt der Krise war am 17. Januar 1903 erreicht, als das Kanonenboot Panther die Festung von San Carlos zerstörte.

Im Zeitalter des Imperialismus war diese Art der Schuldeneintreibung nichts Ungewöhnliches. Trotzdem war die deutsche Marine mit Blick auf die USA darauf bedacht, keinen Schritt ohne die Engländer zu unternehmen. Allerdings fühlte sich Präsident Theodore Roosevelt vom Kaiser mehr brüskiert als von den Briten. Dies hängt mit der Monroe-Doktrin von 1821 zusammen, wonach Europäer sich aus amerikanischen Angelegenheiten herauszuhalten hätten. Diese Drohung richtete sich an Spanien, dessen lateinamerikanische Kolonien sich gerade selbständig gemacht hatten. Allerdings waren die USA noch ein junger Staat und verfügten nicht über die Macht, Spanien an militärischen Interventionen zu hindern. In ihrer Anfangsphase wurde die Monroe-Doktrin von der britischen Seemacht getragen. Denn die Briten standen einer möglichen Rückeroberung der verlorengegangenen Kolonien durch Spanien ebenso ablehnend wie die USA gegenüber.

Auswärtige Mächte kontrollierten Venezuela

Zur Jahrhundertwende hatten sich die Machtgewichte zugunsten Deutschlands und der USA verschoben und im karibischen Becken gerieten die aufstrebenden Weltmächte nun aneinander. Deutsches Kapital wurde ebenso wie deutsche Produkte nach Südamerika exportiert. Vierzig Prozent aller deutschen Direktinvestitionen flossen 1914 in Länder südlich des Rio Grande. Geld, das bis zum Zusammenbruch des Rußlandhandels in Europa investiert worden war, wanderte jetzt nach Südamerika. 1886 erfolgte die Gründung der Deutschen Überseebank. 1887 wurde die Brasilianische Bank für Deutschland aus der Taufe gehoben. Und 1905 wurde das Filialnetz um die Deutsch-Südamerikanische Bank erweitert. Deutschland war 1913 der wichtigste oder zweitwichtigste Handelspartner südamerikanischer Staaten. Diese Volkswirtschaften bezogen aus dem Reich Maschinen, Automobile und Waffen. Die Ausbildung der Armeen festigte die Freundschaft zwischen den Militärs. Auch deswegen sind diese Länder nicht in den Ersten Weltkrieg eingetreten.

Venezuela war ein Paradebeispiel für ein Land, das unter informeller Herrschaft auswärtiger Mächte stand. Die Regierung in Caracas hatte die Engländer zwar hinausgedrängt, als sie Produkte aus Trinidad mit hohen Schutzzöllen belegte. Deutschland dagegen vergab Kredite für den Bau einer Eisenbahn, die von deutschen Firmen vorgenommen wurde. Diese dominante Expansion war US-Handelshäusern ein Dorn im Auge. Auch sie suchten, die Märkte Lateinamerikas zu erobern. So wurden wirtschaftliche Konkurrenten sukzessive zu Rivalen.

Parallel dazu veränderten sich die weltpolitischen Koordinaten. Die USA entwickelten sich zur Seemacht, mit der faktischen Annexion Kubas, der Phillippinnen und Hawaiis zur Kolonialmacht. Ebenso vollzog Deutschland den Wechsel zur Überseepolitik. Das Auftreten der kolonialpolitisch "verspäteten Nation" wurde jedoch zunehmend als anmaßend empfunden. Dies galt gerade in Venezuela.

Die USA beanspruchten die westliche Hemisphäre für sich

Trotz der zögerlichen Haltung der Briten führte die Venezuelakrise von 1902/03 nicht zum Eklat zwischen Deutschland und den USA. Der deutsche Befehlshaber hatte die Order, keinen Schritt ohne die Engländer zu unternehmen. Die US-Marine war zwar bereit zum Auslaufen, mußte aber nicht eingreifen. Präsident Theodore Roosevelt trat als Schiedsrichter auf. Kurz nach dem Beschuß der Festung San Carlos akzeptierten alle Beteiligten seinen Schiedsspruch, der die Tilgung der Schulden vorsah.

Trotzdem markiert diese friedliche Konfliktregelung einen Wendepunkt im Verhältnis der USA zu seinen lateinamerikanischen Nachbarn. Jetzt, da europäische Kolonialmächte keinen Einfluß mehr auszuüben wagten, ordneten die USA den gesamten Kontinent ihrem informellen Herrschaftsbereich ein. 1903 schrieb Washington eines der häßlichsten Kapitel der US-Lateinamerikapolitik. Die Souveränität Kolumbiens wurde mit Füßen getreten. Um sich den Zugang zum Panamakanal zu sichern, stachelte Roosevelt einige Militärs zur Rebellion im Norden des Landes auf. Die Aufständischen wurden sofort von den USA als Staat anerkannt. So entstand "Panama". Zu dessen Schutz stationierten die USA dort Truppen , und Kolumbien stand vor vollendeten Tatsachen. Roosevelt verkündete im Anschluß an die Panama-Aktion seinen Zusatz zur Monroe-Doktrin: "Chronisches Fehlverhalten oder der Niedergang der Beziehungen zur zivilisierten Gesellschaft muß die Intervention zivilisierter Nationen zur Folge haben." In der Westlichen Hemisphäre, so führte Roosevelt weiter aus, sei es die Aufgabe der USA, diese Rolle als internationale Polizeimacht zu übernehmen. Es folgten größere und kleinere Interventionen im karibischen Raum. Allein dreimal griffen zwischen 1906 und 1912 US-Streitkräfte auf Kuba ein.

Die Parallelen zur Gegenwart sind unübersehbar. Der Unterschied besteht nur darin, daß Deutschland damals die Konfrontation mit Venezuela suchte, während die USA an einer friedlichen Lösung interessiert waren. Heute streben die USA nach Herrschaft über Dritte-Weltstaaten in einer Art, wie es selbst in Hochzeiten des Imperialismus unüblich war.


 
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