© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/03 31. Januar 2003


Der atlantische Graben
Warum Europa und Amerika sich immer weiter voneinander entfernen werden
Alain de Benoist

Indem er Frankreich und Deutschland mit einer beispiellosen Arroganz und Verachtung als typische Repräsentanten des "alten Europa" stigmatisierte, hat Donald Rumsfeld auf den Punkt gebracht, was seit Monaten in der amerikanischen Presse zu lesen ist: Europa und die USA leben gegenwärtig in Scheidung - im "transatlantischen Bruch" -, und alles weist darauf hin, daß sich ihre Wege in Zukunft immer mehr trennen werden.

Welches Ziel die USA mit ihrer derzeitigen Politik verfolgen, hat Zbigniew Brzezinski schon 1997 in seinem Buch "Die einzige Weltmacht" klar und deutlich angekündigt. Sie wollen die globale Vormachtstellung ausnutzen, die ihnen mit der Auflösung des sowjetischen Blocks zufiel, um die Unipolarität der Welt auf Jahre hinaus sicherzustellen. Aus diesem Grund wollen sie mit allen Mitteln verhindern, daß auf dem eurasischen Kontinent eine Macht entsteht, die ihnen Konkurrenz machen könnte.

Die USA haben die Mittel, um diese Politik durchzusetzen. Aber sie wissen auch, daß ihre Tage gezählt sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg erbrachte die amerikanische Industrie alleine die Hälfte des weltweiten Produktionsvolumens. Heute beträgt ihr Anteil nur noch 23 Prozent der weltweiten Produktion und 17 Prozent am weltweiten Handelsvolumen. Zudem haben sie die größte Staatsschuld der Welt: Ihr Defizit ist im Laufe der letzten zehn Jahre von 80 Milliarden Dollar (1991) auf 450 Milliarden Dollar (2002) angestiegen!

Ihre beiden großen Rivalen sind China, das sich derzeit in einem unerhörten Aufschwung befindet, und Europa, das die USA in bezug auf das Bruttoinlandprodukt (BIP) und Einwohnerzahl bereits hinter sich gelassen hat.

Seit dem Krieg in Afghanistan kontrollieren die USA die Bodenschätze Zentralasiens. Wenn sie nun auch noch das irakische Erdöl in ihre Gewalt bringen, können sie Chinas Energieversorgung blockieren. In den kommenden 20 Jahren wird die chinesische Wirtschaft mehr und mehr auf Erdölimporte angewiesen sein.

Gegenüber Europa drängt Washington auf eine möglichst schnelle Erweiterung. Vor allem ist den Amerikanern an einem EU-Beitritt der osteuropäischen Länder gelegen, die in ihrer politischen Ausrichtung eher atlantisch als wirklich europäisch denken, und an die Türkei, die eine Schlüsselrolle für die Wahrnehmung amerikanischer Interessen im Nahen Osten spielt. Zudem sehen sie voraus, daß die Europäische Union sich selber zur Ohnmacht verdammt, je größer sie wird, ohne vorher die Mittel zu einer wahrhaft gemeinsamen Politik geschaffen zu haben. Unter den osteuropäischen Staaten, deren EU-Beitritt auf dem Kopenhagener Gipfel bewilligt wurde, scheint im übrigen die Bereitschaft, sich dem Willen der USA zu fügen, größer als das Bestreben, am Bau eines Europa mitzuwirken, das international eine einzigartige politische Identität und Autonomie im Dienst eines echten Zivilisationsprojektes behaupten kann. Man denke nur an die Entscheidung Polens, seine Luftstreitkräfte mit F-16-Bombern auszustatten.

Für die Amerikaner war Politik immer schon ein zugleich kommerzielles, militärisches, religiöses und moralisches Unterfangen. Dieser Politikbegriff liegt auf derselben Linie wie das nationale Sendungsbewußtsein, das die Gründerväter aus ihrer Prädestinationslehre ableiten: Amerika hat den "Auftrag", die ganze Welt nach seinem Ebenbild umzugestalten. Als "auserwähltes" Volk hat es zugleich das Recht, der Welt seinen Willen aufzudrängen - wer sich dagegen auflehnt, wird als Verkörperung des "Bösen" verteufelt.

Neu daran ist, daß das Weiße Haus gegenwärtig einem Modell der totalen Hegemonie verhaftet ist, einem Modell also, das nicht länger auf multilateraler Zusammenarbeit und geteilter Herrschaft beruht, sondern auf der erklärten Absicht, die Regeln des Völkerrechts genauso zu mißachten wie die Verpflichtungen eines Systems der gleichberechtigten Partnerschaft. Neu ist auch die Rückkehr zur Doktrin des Präventivkrieges - eben jener Doktrin, auf die sich Japan 1941 berief, um den Angriff auf Pearl Harbor zu rechtfertigen! Der Macht des globalisierten Fianzkapitalismus ("market power") wird somit eine erdrückende militärische Macht ("hard power") zur Seite gestellt.

Doch beschränkt sich die Überlegenheit der Amerikaner nicht auf ihre materielle Stärke. Sie hängt auch damit zusammen, daß die USA im Gegensatz zu den Europäern die Fähigkeit entwickelt haben, die Welt neu zu erdenken. Sie machen sich sowohl eine allgemeine Vorstellung, die ihrer eigenen historischen Einzigartigkeit und ihren ständigen Interessen gerecht wird, als auch eine praktische, die ihren derzeitigen Machtbestrebungen dienlich ist.

Mit der Wahl von George W. Bush zum US-Präsidenten kamen die kompromißlosesten "Falken" an die Macht: Paul Wolfowitz, Donald Rumsfeld, Dick Cheney, Richard Perle sowie Intellektuelle wie Robert Kagan, Charles Krauthammer oder William Kristol. Diese Männer haben den alten amerikanischen Traum aufgegriffen und ihm ein brutales neues Antlitz verliehen: das des militärischen Hegemonismus und des skrupellosen Unilateralismus.

Alle Rhetorik, die momentan aus Washington zu vernehmen ist, hat ein einziges Ziel: den "Kampf gegen den Terrorismus" genauso zu instrumentalisieren wie einst die "Verteidigung der freien Welt". Es geht darum, ein vermeintliches "Wir" zu schaffen, das sich in Wirklichkeit aus zu Vasallen degradierten Verbündeten zusammensetzt. Osama bin Laden kommt dieser Strategie entgegen, indem er dem amerikanischen "Kreuzzug" gegen alle, die sich der Demokratie des Marktes widersetzen, seinen "Heiligen Krieg" gegen die Ungläubigen als symmetrisch verkehrtes Vorbild anbietet.

Im Frühjahr 1999 schrieb der Leitartikler der New York Times, William Pfaff, daß "sich in den Beziehungen zwischen den USA und Europa eine Wende abzeichnet, die Konflikte verheißt". Diese Wende sei Ergebnis einer "geschichtlichen Dynamik, die die Regierung überholt". Eine Quelle der Feindseligkeit, so Pfaff weiter, liege in der globalen Deregulierung der Wirtschaft, die zwischen Europa und den USA unvereinbare wirtschaftliche und industrielle Interessen zutage treten ließe. "Selbst wenn die Mehrheit der Europäer keinen Konflikt mit den USA wünscht", resümierte Pfaff, "werden sie sich gegen ihren Willen dazu gezwungen sehen."

Jede Hegemonie ruft Widerstände hervor. Die Vehemenz, mit der die überwältigende Mehrheit der Europäer (71 % der Deutschen, 76 % der Franzosen) die amerikanischen Angriffspläne auf den Irak verdammt, ist das beste Beispiel dafür. Das "alte Europa" lehnt sich gegen die neue Barbarei auf.


 
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