© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/03 31. Januar 2003

 
Kampf um die Erinnerung
Vergangenheitsbewältigung: In Landsberg am Lech soll ein Friedhof eingeebnet werden, auf dem auch hingerichtete deutsche Soldaten beerdigt sind
Thorsten Thaler

In der beschaulichen oberbayerischen Kleinstadt Landsberg am Lech tobt seit einigen Wochen ein heftiger Streit um die Zukunft des sogenannten Spöttinger Friedhofs. Auf dem seit 1923 zum Eigentum des Freistaats Bayern gehörenden ehemaligen Gefängnisfriedhof der Justizvollzugsanstalt Landsberg sind etwa 300 Tote bestattet, darunter neben Opfern des NS-Regimes, auf natürliche Weise verstorbenen Gefangenen und einigen Selbstmördern auch weit über einhundert von den Amerikanern zwischen 1945 und 1951 als Kriminelle und Kriegsverbrecher zum Tode Verurteilte und Hingerichtete. Seit 1984 ist der Friedhof für Beisetzungen geschlossen, jetzt sollen auch die Gräber eingeebnet werden und die schlichten Holzkreuze mit den Namensinschriften verschwinden.

Gegen dieses Vorhaben regt sich nun unter den 25.500 Einwohnern Landsbergs geharnischter Protest. "Die Entfernung der Holzkreuze ist eine Kulturschande", entrüstet sich Heinrich Pflanz im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. Der Inhaber eines alteingesessenen Schuhgeschäfts im Zentrum von Landsberg hat eine Interessengemeinschaft Spöttinger Friedhof ins Leben gerufen, die sich für den Erhalt der Kreuze und der Namenstafeln einsetzt. In einem Brief an den Oberbürgermeister Ingo Lehmann (SPD) und die Mitglieder des Stadtrats von Landsberg schreibt Pflanz, der Spöttinger Friedhof sei "in seiner Art einmalig". Er habe als Kind die Zeit der Hinrichtungen miterlebt, so der heute 60jährige, "und das hat mich ein Leben lang beschäftigt".

Die ersten Hinrichtungen in Landsberg fanden im Dezember 1945 statt. Im Laufe des Jahres 1946 übernahmen die Amerikaner den gesamten Gefängniskomplex, Zivilgefangene wurden verlegt. Offiziell wurde das War Criminals Prison No. 1 Landsberg (WCPL) auf Befehl des Oberbefehlshabers der amerikanischen Streitkräfte im Dezember 1946 eingerichtet. Bewacht wurde das Gefängnis von Soldaten der polnischen Wachkompanie, oft ehemaligen polnischen Displaced Persons (Verschleppte), die in die US-Armee aufgenommen worden waren. Auch deutsche Bedienstete gehörten zum WCPL, neben Schreibkräften beispielsweise einige Leiter von Gefängniswerkstätten und Gefängnisgeistliche wie Pater Morgenschweis. Ärzte des städtischen Krankenhauses versorgten die Gefangenen.

Je länger sich die Hinrichtungen hinzogen, desto lauter wurde auch die Kritik daran. Für Gnadengesuche gab es ein breites politisches Bündnis. Im November 1950 veröffentlichten alle Parteien von Stadt und Kreis Landsberg eine Resolution mit der Bitte um Gnade für die zum Tode Verurteilten. Am 7. Januar 1951 fand eine Demonstration mehrerer tausend Menschen auf dem Landsberger Hauptplatz statt, bei der neben Landespolitikern auch der CSU-Bundestagsabgeordnete Richard Jäger ein Ende der Hinrichtungen forderte.

Während einige prominente Insassen wie Alfred Krupp von Bohlen und Halbach und Wilhelm Speidel 1951 von den Amerikanern begnadigt wurden, kam der letzte Gefangene erst 1958 frei. Danach wurde der Gefängniskomplex wieder deutschen Behörden übergeben. Insgesamt wurden in Landsberg zwischen 1945 und Sommer 1951 an die 300 Todesurteile vollstreckt; die genaue Zahl läßt sich heute kaum mehr ermitteln. Etwa 140 Hingerichte sind auf dem Spöttinger Friedhof beigesetzt.

In seinem vierseitigen Brief, der der JUNGEN FREIHEIT vorliegt, widerspricht Heinrich Pflanz der Behauptung, bei den von den Amerikanern als Kriegsverbrecher Hingerichteten handle es sich durchweg um "hochrangige und überzeugte Nazis". Es sei nachweisbar, daß nicht wenige der zum Tode Verurteilten die Taten, die ihnen zur Last gelegt wurden, nicht begangen hätten. Wörtlich heißt es in dem Schreiben: "Darf man jemanden einen Verbrecher nennen, wenn er die Verbrechen, für die er beschuldigt wurde, nicht begangen hat?"

Besonders erbost zeigt sich Heinrich Pflanz über einen Mann, den er als die treibende Kraft hinter der Initiative zur Umwidmung des Spöttinger Friedhofs ausgemacht hat: Anton Posselt. Der Gymnasiallehrer ist Vorsitzender der 1983 gegründeten "Bürgervereinigung Landsberg im 20. Jahrhundert", die sich der geschichtspolitischen Aufarbeitung der NS-Zeit in Landsberg widmet. Den Friedhof mit seinem individuellen Totengedenken auch der Opfer der allierten Siegerjustiz bezeichnet der 61jährige als "Schandmal der bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung". Wenn es nach Anton Posselt geht, sollen die Holzkreuze mit den Namen der von den Amerikanern hingerichteten deutschen Soldaten von dem Gelände entfernt werden und statt dessen eine Gedenk- und Dokumentationsstätte entstehen. "Diesen Friedhof bringe ich noch weg", wird Posselt im Landsberger Tageblatt zitiert.

Auf sein beharrliches Betreiben geht offenbar eine Runde zurück, die sich im November vorigen Jahres in der Justizvollzugsanstalt Landsberg zusammengefunden hat. Bei dem Treffen einigten sich Vertreter des bayerischen Justizminsteriums, der JVA, des Landkreises und der Stadt sowie der beiden christlichen Kirchen und der Israelitischen Kultusgemeinde München-Oberbayern - auf dem Friedhof liegen auch vier Tote jüdischen Glaubens begraben - darauf, den Spöttinger Friedhof aufzugeben.

Inzwischen ist der erste Schritt dahin getan. Am Mittwoch voriger Woche enthüllte Bayerns Justizminister Manfred Weiß auf dem Friedhofsgelände eine Informationstafel, auf der vermerkt ist, daß der Friedhof am 22. Januar entwidmet wurde. In seiner Rede bekräftigte der CSU-Politiker, daß die Holzkreuze entfernt und das individuelle Totengedenken aufgegeben werden sollen. Zur Begründung führte Weiß aus, daß der Friedhof immer wieder "als Plattform für ein Gedankengut mißbraucht " werde, das "national aber auch international Unverständnis und Befremden auslöst". Gerade in Hinblick auf die auf dem Spöttinger Friedhof beerdigten Kriegsverbecher, so der Justizminister, dürfe der Ort nicht den "Ewiggestrigen" als Gedenkstätte überlassen werden.

Zur Untermauerung ihrer Kriegsverbrecher-These führen Gegner des Friedhofs wie Weiß vor allem den Fall von Oswald Pohl an. Als Chef des Wirtschafts- und Verwaltungsamtes der SS war Pohl seit März 1942 auch für die Konzentrationslager verantwortlich. Im November 1947 wurde er in einem Nachfolgeprozeß des Nürnberger Militärtribunals wegen Kriegsverbrechen und Verbechen gegen die Menschlichkeit zum Tode verurteilt. Die Hinrichtung fand am 7. Juni 1951 in Landsberg statt. Pohl gehörte zu den letzten Inhaftierten, an denen die Todestrafe noch vollstreckt wurde.

Zustandekommen und Vollstreckung der Todesurteile sind bis heute ein dunkles Kapitel der amerikanischen Siegerjustiz. Wie die Hinrichtungen abliefen, hat der Verleger Gert Sudholt in seinem Tagebuch "In Haft - Landsberg 1993" geschildert. Für zehn Wochen wegen eines Pressedelikts in der Landsberger Vollzugsanstalt inhaftiert, hat sich Sudholt während dieser Zeit auf historische Spurensuche begeben. Er schreibt: "Die Hinrichtungen (fanden) jeweils an einem Freitag statt. Dann kurvten stets eine größere Zahl amerikanischer Panzer durch das Gelände. (...) Der Todestrakt befand sich im Gang B-O. Es waren die letzten Zellen. Von hier wurden die Delinquenten in den modrigen Keller geschleppt, wo sie ihre letzte Nacht verbrachten. Der letzte Gang führte dann durch das heutige Spital in den ersten Stock. In der jetzigen Spitalkapelle wurde ihnen von Pater Morgenschweis die Hl. Messe gelesen. Hier empfingen sie auch geistlichen Beistand und der Pater - ein grundanständiger Mann, sein Tagebuch ist noch immer nicht veröffentlicht - begleitete sie bis zur Türe. Erneut mußten die Delinquenten, die Hände auf dem Rücken oder auf dem Bauch gefesselt - den Spitalgang durchqueren und wurden durch eine weitere Türe gebracht. Im Spitaleck stand der Galgen. Gewiß nicht ohne Bedacht hatten die Amerikaner in Landsberg genau diesen Platz zu ihrer Hinrichtungsstätte erkoren. Von hier aus konnten die dem Tode Geweihten die 'Hitler-Eiche' sehen, bevor ihnen die Schlinge um den Hals gelegt wurde." Soweit der Bericht von Gert Sudholt.

Daß in Landsberg auch nachweisbar eine Reihe Unschuldiger gehenkt wurden, belegt der Fall des ehemaligen Wehrmachtsfeldwebels Joseph Schmitz. Er wurde beschuldigt, im August 1944 sechs in deutsche Gefangenschaft geratene US-Flieger erschossen zu haben. Ein Militärtribunal verurteilte ihn dafür nach Kriegsende zum Tod durch den Strang. Am 15. Oktober 1948 wurde Joseph Schmitz gehenkt und auf dem Spöttinger Friedhof begraben. Mehr als ein Jahrzehnt später, am 31. Januar 1962, stellte das Sozialgericht Münster die Unschuld des Mannes fest. In dem Verfahren ging es um Rentenzahlungen an seine Witwe Sophia Schmitz. Das Gericht gelangte zu der Überzeugung, daß Joseph Schmitz mit der Ermordung der sechs US-amerikanischen Soldaten nichts zu tun hatte.

Es sind wohl auch Fälle wie dieser, die bei dem Streit um die Einebnung des Spöttinger Friedhofs eine Rolle spielen. "Für mich ist dieser Friedhof ein Mahnmal der Zeitgeschichte", sagt Günter Otremba im Gespräch mit der jungen freiheit. Der Vorsitzende der Freien Wähler in Landsberg setzt sich entschieden für den Erhalt des Friedhofs samt der Holzkreuze ein. Für die Stadtratssitzung am Mittwoch dieser Woche hatte er einen Antrag eingebracht, der die Beibehaltung des Friedhofs in seiner jetzigen Form vorsieht. Gegenüber der JF zeigte er sich zuversichtlich, eine Mehrheit in dem 30köpfigen Gremium zu finden. Ein Ergebnis lag bei Redaktionsschluß noch nicht vor.

Notfalls will der 67jährige Inhaber eines Elektrofachhandel ein Bürgerbegehren und schließlich einen Bürgerentscheid einleiten. Ähnlich wie Heinrich Pflanz von der Interessengemeinschaft Spöttinger Friedhof ist auch Günter Otremba sicher, daß eine deutliche Mehrheit der Landsberger Bevölkerung für den Erhalt des Friedhofs ist - wenn sie nur gefragt würde.

Zudem warnt Pflanz vor der Schaffung eines Präzedenzfalls. "Wenn heute der Spöttinger Friedhof beseitigt werden kann, können mit dem gleichen Argument morgen die Soldatenfriedhöfe entfernt werden." Deswegen heiße es auch hier: "Wehret den Anfängen".

Fotos: Spöttinger Friedhof in Landsberg am Lech: "Schandmal der Vergangenheitsbewältigung"

CSU-Justizminister Manfred Weiß (r.) am 22. Januar auf dem Spöttinger Friedhof: Gedenkstätte für Ewiggestrige?

Neu aufgestellte Informationstafel: Hinweis auf die Entwidmung des Spöttinger Friedhofs


 
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