© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/03 31. Januar 2003

 
Die Wahl zwischen Pest und Cholera
Heinrich August Winkler führt die Bürgerkriegsangst als gewichtigen Grund für die Berufung Hitlers zum Reichskanzler an
Alexander Barti

Immer noch die wichtigste Frage" der neueren deutschen Geschichte nennt sie der Historiker Heinrich August Winkler: die Frage nach dem Scheitern der ersten deutschen Republik. Ihr Untergang war besiegelt, als der Parteivorsitzende der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, Adolf Hitler, am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt wurde. Vor dem Hintergrund des 70. Jahrestages der "Machtergreifung" lud das August-Bebel-Institut in Zusammenarbeit mit der Rosa-Luxemburg Stiftung in den Festsaal des Berliner Abgeordnetenhauses, um die Frage zu diskutieren, ob "Hitler vermeidbar" gewesen sei. Der Veranstaltungsort war wohl nicht zufällig gewählt worden, wurde doch in dem Festsaal zum Jahreswechsel 1918/19 die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) gegründet; später diente er als Sitzungssaal der NSDAP.

Weimar sei an seinen strukturellen Defiziten zugrunde gegangen, die Machtergreifung sei also keine Zwangsläufigkeit gewesen, erklärte der SED-Historiker Klaus Kinner (Leipzig) in dem ersten Kurzreferat im bestem DDR-Jargon. Schuldig seien die "alten Eliten aus Militär, Großgrundbesitz und Industrie", die sich zur Sicherung ihrer Herrschaft einen NS-Kanzler gewünscht hätten. So wurde die Machtergreifung die schwerste "Niederlage der Arbeiterparteien".

Sehr viel sachlicher näherte sich Heinrich August Winkler (Berlin) dem 30. Januar 1933, gleichwohl auch er die Unvermeidbarkeit der Machtergreifung klar verneinte. Der monarchistische Reichspräsident Paul v. Hindenburg sei es gewesen, der durch eine unnötige Ausschreibung von Neuwahlen im Frühjahr 1932 für den NS-Kanzler verantwortlich zu machen sei. Denn eigentlich hätte die Legislaturperiode bis 1934 gedauert. Bis dahin aber hätte man die Talsohle der schweren Wirtschaftskrise schon durchschritten, denn heute weiß man, daß es ab der zweiten Jahreshälfte von 1932 wirtschaftlich wieder aufwärts ging. Mit der konjunkturellen Verbesserung hätten auch Weimars radikale Gegner, die NSDAP und KPD Stimmen eingebüßt.

Die Möglichkeit einer Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Kommunisten sah Winkler nicht gegeben, zu deutlich sei der ideologische Unterschied gewesen. Der deutliche Linksruck innerhalb der KP, der um das Jahr 1928/29 eingesetzt habe, hätte die Gegensätze unüberbrückbar gemacht. Nicht vergessen dürfe man auch, daß die Weimarer Republik ein "Kind" der Sozialdemokratie gewesen sei, so daß diese sich schon deshalb streng an die Verfassung hielten. Ein Zusammenstehen mit den offen verfassungsfeindlichen Kommunisten hätte weite Teile des gemäßigten Bürgertums verschreckt. Die von Kinner heraufbeschworene linke Einheitsfront gegen Hitler hielt Winkler daher für unhaltbar. Das furchtbarste Gespenst von Weimar sei außerdem nicht der Nationalsozialismus, sondern ein drohender Bürgerkrieg gewesen, der sich nach den Wahlen im November 1932 abzuzeichnen schien: Die NSDAP hatte zwar zwei Millionen Stimmen verloren, die Kommunisten gewannen aber fast 600.000 dazu; die Feinde der Republik waren also kaum weniger geworden. In dieser Situation wurde Hindenburg - das eigentliche Machtzentrum in der Spätphase der Republik - von seiner Umgebung dazu gedrängt, die NS-Bewegung durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler einzubinden. Damals sei man überzeugt gewesen, daß man Hitler dann durch eine konservative Ministerriege neutralisieren könne.

Nach dem fundierten Vortrag Winklers, der seit seinem Werk "Der lange Weg nach Westen" als "inoffizieller Hofhistoriker" der Berliner Republik gilt, mußte man durch die beiden weiteren Redner, Lothar Bisky (PDS) und Walter Momper (SPD), einen schmerzhaften Niveauverlust hinnehmen. Bisky, der sich selbst als "Nichthistoriker" deklarierte, beschwor nach einem nostalgischen Ausflug in die DDR der 1980er Jahre die Gefahr durch "alte und neue Nazis". Ähnlich besorgt äußerte sich Momper, der den Realitätsverlust der Linken in Weimar auch in der heutigen Zeit zu erkennen glaubte. Die anschließende Diskussionsrunde zerfranste in historische Details, Ko-Referate und politische Bekenntnisse, aber die Veranstalter dürften mit den 350 Teilnehmern trotzdem zufrieden gewesen sein.

Heinrich-August Winkler (Hrsg.): Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen Republik. Oldenbourg Verlag, München 2002, gebunden, 193 Seiten, 24,80 Euro


 
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