© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    06/03 31. Januar 2003


Stolz auf unsere Provinzialität
von Hans-Georg Meier-Stein

Im "Wilhelm Meister" läßt Goethe seinen Helden erfahren: Alle menschliche Selbstbehauptung im Planen und Durchhalten eines Lebensziels geschieht immer gesellschaftlich. Freiheit ist nie absolut, sondern immer konkret. Selbstbehauptung vollzieht sich stets unter bestimmten Umständen, Entwicklungstendenzen, muß immer auch als gesellschaftliche und politische, das heißt das Gemeinwesen betreffende Aufgabe begriffen werden. Die Ausbildung der Persönlichkeit geschieht also nicht unter absoluter Voraussetzungslosigkeit, sondern aufgrund von bestimmten Bindungen und Gemeinsamkeiten: der Sprache, eines gemeinsam erfahrenen Sinns, bewährter Situationsorientierungen, vorhersehbarer bestimmter Handlungsabläufe, konkreter Regelungen. Das Zusammenwirken all der Konventionen und Übereinkünfte ist unabdingbar für die individuelle und kollektive Selbstbehauptung, für eine sinnvolle Lebensführung und die Persönlichkeitsbildung. Wilhelm Meister erkennt erst die ihm gemäße Bildungsbestimmung, nachdem er die Forderung, in der Gesellschaft und in ihren Institutionen zum allgemeinen Wohl zu wirken, anerkannt hat. Diesen Gedanken haben Arnold Gehlen und Konrad Lorenz weitergeführt und die Bedeutung institutionalisierten Verhaltens, auf das sich der einzelne wie die Gesellschaft verlassen können, hervorgehoben und zur Grundlage spezieller Anthropologie gemacht. Spätestens von daher wissen wir, daß die Traditionen und Institutionen einer Gruppe die Orientierung und Sinnstiftung in einer komplexen Welt erleichtern und Einsicht geben in die vorgegebene Lebensordnung. Goethes bekanntes Wort "Was du ererbst von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen" ist auch in eben diesem Sinne zu verstehen als ein bewußtes Erwerben des geschichtlichen Erbes als Voraussetzung der eigenen Existenz.

Es liegt nahe, auf Heidegger zu verweisen, denn für ihn sind die existenzialen Voraussetzungen des Menschen nur wesentlich zu bestimmen aus dem Mit- sein mit anderen, aus den Bezügen der Alltäglichkeit. Heidegger schreibt in "Sein und Zeit": "Allein die ‚Substanz' des Menschen ist nicht der Geist als Synthese von Leib und Seele, sondern die Existenz." Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß dies eine Absage an die Aufklärung ist, die den Menschen als freien Geist bestimmt, der allzeit Träger des vernünftigen Denkens ist.

Die Wurzeln seiner Existenz findet der Mensch nur in dem, was ihn heimatlich umgibt. Seine Welt ist die Heimat, weil nur hier der Mensch in einem Zustand lebt, in dem sein Bewußtsein noch in der Identität mit seinen Ursprüngen gründet. Das Nachdenken über den Sinn, der in allem waltet, muß keineswegs hoch hinaus. In seiner Rede über die Gelassenheit sagt Heidegger: "Es genügt, wenn wir beim Naheliegenden verweilen und uns auf das Nächstliegende besinnen: Auf das, was uns, jeden einzelnen hier und jetzt, angeht; auf diesen Fleck Heimaterde, jetzt: In der gegenwärtigen Weltstunde."

Zur Grundverfassung des menschlichen Daseins gehört also die Verwurzelung in der Heimat, die Orientierung an dem, was das In-der-Welt-sein in seiner Ursprünglichkeit und Eigentlichkeit als heimatliches Umfeld umgibt. "Mitsein" und "Mitdasein der Anderen" sind bei Heidegger nicht gesellschaftlich oder soziologisch zu verstehen, sondern existenzial: Die Anderen sind von mir nicht wesenhaft unterschieden, mit ihnen teile ich meine Existenz. Die Anderen "begegnen aus der Welt her, in der das besorgend-umsichtige Dasein sich wesenhaft aufhält." Der Mensch findet sich zuallererst in dem, was er tut, arbeitet, abwehrt, wünscht, plant, erfindet: Im "Besorgen" seiner Lebensgestaltung und in "dem zunächst besorgten umweltlichen Zuhandenen". "Besorgen" meint vorausschauende, zweckbewußte Tätigkeit zur Erhaltung des Lebens in einem Umkreis von Lebensbeziehungen, zu dem auch die "Anderen" gehören, die eben auch in "besorgender" Tätigkeit vorgefunden werden: "Wenn das Mitsein für das In-der-Welt-sein existenzial konstitutiv bleibt, dann muß es ebenso wie der umsichtige Umgang mit dem innerweltlich Zuhandenen, das wir vorgreifend als Besorgen kennzeichneten, aus dem Phänomen der Sorge interpretiert werden, als welche das Sein des Daseins überhaupt bestimmt wird." Die Sorge gehört also zu den innerseelischen Kämpfen des Menschen und wesenhaft zu seiner Existenz.

Die Sorge, die sich im Herzen einnistet und unter der Last des Irdischen drückt, bestimmt das Sich-Einrichten in der Welt. "Besorgen" ist Erschließen der Mit-welt im vertrauten Mitsein mit Anderen. Auf dem "ursprünglich verstehenden Mitsein" gründet das "Sich-kennen". Das ist kein flottes Kennenlernen von Fremden, die schleunigst in den eigenen Lebenskreis integriert werden sollten, sondern ursprünglich-existenzial und meint das verstehende Kennen dessen, was man mit den Anderen in der Mitwelt vorfindet und besorgt. Das "Sich-kennen" ist konstitutiv für das eigene Dasein als Seinsart des Miteinanderseins. Das Mitsein mit Anderen ist daher immer zu verstehen in den heimatlichen Lebensbezügen. Die Mitwelt ist die Heimat.

Heidegger fragt: "Gehört nicht zu jedem Gedeihen eines gediegenen Werkes die Verwurzelung im Boden der Heimat?" Und er antwortet mit jenem Dichter, "der das Haus der Welt für das Wohnen der Menschen zur Sprache bringt". Johann Peter Hebel schreibt einmal: "Wir sind Pflanzen, die mit den Wurzeln aus der Erde steigen müssen, um im Äther blühen und Früchte tragen zu können. Der Dichter will sagen: Wo ein wahrhaft freudiges und heilsames Menschenwerk gedeihen soll, muß der Mensch aus der Tiefe des heimatlichen Bodens in den Äther hinaufsteigen können. Äther bedeutet hier: Die freie Luft des hohen Himmels, dem offenen Bereich des Geistes."

Ist es also nicht so, daß in der ursprünglichen verstandenen und von vornherein verstandenen wurzelkräftigen Heimat erst das wahrhafte Kunstwerk geschaffen werden kann? Kunst ist für Heidegger Ausdruck eines im Heimatlichen als dem sich für den Menschen in seiner Gänze einzig erschließbaren Lebensgrund verwurzelten Lebensgefühls. In seiner Festrede zu Ehren von Conradin Kreutzer sagt er: "Was legt uns diese Feier nahe, falls wir bereit sind, uns zu besinnen? In diesem Fall achten wir darauf, daß aus dem Boden der Heimat ein Werk der Kunst gediehen ist. Denken wir dieser einfachen Tatsache nach, dann müssen wir sogleich daran denken, daß der schwäbische Boden im vorigen und vorvorigen Jahrhundert große Dichter und Denker hervorgebracht hat. Bedenken wir dies weiter, dann zeigt sich sogleich: Mitteldeutschland ist in gleicher Weise ein solcher Boden, Ostpreußen, das schlesische Land und das Böhmerland ebenso."

Wenn Kunst also derart im Boden der Heimat und in ihren natürlichen Gemeinschaften gründet, dann kann daraus nur die Forderung abgeleitet werden, eine Geschichte der deutschen Kunst nach Stämmen und Landschaften zu schreiben. Natürlich liegt es jetzt auf der Hand, an Josef Nadlers opulente Literaturgeschichte zu denken, die sich genau daran orientiert; es wäre freilich abwegig anzunehmen, daß Heidegger sich von Nadler hätte inspirieren lassen, denn er hatte lange vor Nadler in "Sein und Zeit" seine Ontologie und damit die Grundlagen für seine Lehre vom Kunstwerk niedergeschrieben. Dennoch verweist uns die Parallelität auf weit ins 18. und 19. Jahrhundert zurückreichende gemeinsame geistesgeschichtliche Ansatzpunkte, namentlich auf Herder und Nietzsche. Die Idee einer historischen Entwicklung des menschlichen Daseins aus dem natürlichen Urgrund der Heimat analog dem Wachstum der Pflanzen findet ihren Ausgangspunkt in Herders Universalgeschichte von den jungen Völkern als eine Geschichte der Ausbildung ihrer Seele. Geschichte ist ein Wirkungsgefüge von organischen Kräften, hatte Herder gelehrt. Zu seiner Zusammenschau von Natur und Geschichte gehört, daß er die von der göttlichen Allmacht gewollte menschliche Geschichte in das National-Individuelle, in Zeiten und Völker "ausgestreut" sah und der Geist und die Seele der Völker sich in ihren Liedern und in ihrer Dichtung manifestieren. Anklänge an Goethes Gedanken von der Evolution der Pflanzen finden sich dabei allemal, denn wie im Habitus der Pflanzen so drückt sich in den Kulturen der Völker ihr Wesen aus. Nietzsche hatte mit großem Pathos die ästhetische Welt als Entfaltung aus einem schöpferischen Urgrund erklärt. Der Urgrund ist der früheste Zustand, dem alle Erscheinungen, mithin auch die Kunst, erst folgen.

Johann Peter Hebel, auf den sich Heidegger beruft, hatte in seinem "Rheinischen Hausfreund" den Menschen in die Eigentlichkeit und Erdgebundenheit und - wie Heidegger sagt - "in die Natürlichkeit der Natur" zurückgestellt. Wenn Heidegger also bei dem der Heimat entfremdeten Großstadtmenschen den Verlust der Bodenständigkeit beklagt, so deutet dies auf eine Tradition des Mißtrauens gegen urbane Seinsweisen und rationale Kategorien, die sich bis auf die Romantik und den Sturm und Drang zurückführen läßt. Wo wirkliches Menschenwerk und die wahrhaften Werke der Kunst nur gedeihen, wenn das menschliche Dasein im Boden der Heimat gründet, gerät urbane Geistoffenheit freilich schnell in den Verruf profanierender Oberflächlichkeit.

Die liberale Kritik hat die konservative Einsicht, nationalen, heimischen Grund als festen Grund zu bewahren als provinzielle Blickverengung verlästert, aber gleichzeitig dem in den offenen Gesellschaften mit ihrem abstrakten, rein sachbezogenen Regelwerk so offensichtlichen Leiden an fehlenden Inhalten und haltgebenden Bindungen nichts Substantielles entgegensetzen können - was die Häufigkeit des neurotischen Charakters heutzutage beweist. Das Empfinden der Sinnleere, der Ungesichertheit des Daseins hat doch seinen Grund gerade darin, daß es an Sicherheit gebenden Zugehörigkeiten und an Identität stiftender Vergangenheit in den pluralistischen Gesellschaften fehlt.

Für Heidegger gewinnt der Mensch seine individuelle Erfüllung in der wurzelkräftigen Heimat. Die konstitutiven Elemente seiner Existenz sind ihm "durchsichtig". Das "eigentliche" Dasein gründet im Verstehen der natürlichen Lebenszusammenhänge in der Mitwelt. Dies ermöglicht den Entwurf von Möglichkeiten und das "Besorgen" auf der Grundlage der Verständigkeit. Umgekehrt hat die Undurchsichtigkeit des Daseins egomane Selbsttäuschung und Irrtümer zur Folge.

Goethes "Wilhelm Meister" unterliegt ihnen in Unkenntnis der Welt als Konstitutivum. Er muß erkennen, daß die Phantasiegebilde seiner idealen Welt ins Leere laufen und daß er zu einer verantwortungsbewußten Lebensrolle nur finden kann durch Akzeptanz der Traditionen und Institutionen. Traditionen und Institutionen sind Zugangsarten zu der dem einzelnen begegnenden Welt. Als solche werden sie von Heidegger, Arnold Gehlen und Konrad Lorenz beschrieben. Aber Traditionen und Institutionen müssen emotionale Kraft besitzen, Sinn stiften, auch Sehnsüchte stillen, wenn sich die Organisation nicht im öden Regelwerk erschöpfen soll. Alexis de Tocqueville hatte einst erklärt, daß menschliche Gemeinschaften nicht mit formalen Verfassungen und durch den perfekten Mechanismus einer technisch-ökonomischen Zivilisation zusammengehalten werden, sondern durch vertraute Ideen, Wertbegriffe und Glaubensgewißheiten, erprobte Verhaltensweisen, gewachsene Sitten und Gebräuche, durch Gemütsreichtum, Weisheit und einen Schatz von gefühlsmäßig begründetem Wissen, durch überliefertes, liebenswertes Kulturgut und vor allem historisches Bewußtsein. Konrad Lorenz schreibt: "Es liegt im tiefsten Wesen des Menschen als des natürlichen Kulturwesens begründet, daß er eine voll befriedigende Identifizierung nur in und mit einer Kultur zu finden vermag."

Die vom Einzelnen verstandene Kultur und "Welt" kann aber niemals global vernetzt sein. In den kosmopolitischen, pluralistisch-offenen Gesellschaften, die gegenüber den zu allen Zeiten die Menschen vehement bewegenden Sinnfragen kalt und indifferent bleiben, wird es schwer sein, das eigene Dasein in Wertzusammenhänge einzuordnen, eine das ganze Leben umfassende Zielsetzung und eine Selbstbestimmung zu finden, die dem Leben Sinn und Erfüllung gibt. Die Konjunktur ideologischer Verheißungen und utopischer Essenzen, die trügerische Sicherheiten bieten, beweist nur, wie sehr der moderne Mensch seelischen Gefährdungen ausgesetzt ist.

Auf dem historischen Grund einer nationalen, kulturellen, religiösen oder ethnischen Selbstbestimmung und Selbstvergewisserung, wo vertraute Normen und Empfindlichkeiten vorwiegen, kann indes die Seinsfrage noch im Zusammenhang mit realer und intuitiver Erfahrung gestellt werden.

Die Besinnung auf Heimat und Nation hat nichts mit engherziger Provinzialität zu tun. Der Vorwurf rückwärtsgewandter Technikfeindschaft geht ebenso fehl. Das Verhältnis zur technischen Welt soll - so Heidegger - von Einfachheit, Ruhe und "Gelassenheit" bestimmt werden. Das meint eine zweck- und sachgemäße Benutzung, aber gleichzeitig muß man die technischen Gegenstände vom Innersten fernhalten, daß sie nicht Herrschaft über uns bekommen. Sollte das Bewußtsein für Natuon und Heimat verlorengehen, wer wollte noch verhindern, daß "die im Atomzeitalter anrollende Revolution der Technik den Menschen auf eine Weise fesseln, behexen, blenden und verblenden könnte, daß eines Tages das rechnende Denken als das einzige in Geltung und Übung bliebe."

 

Hans-Georg Meier-Stein, Jahrgang 1948, studierte Alte und Neuere deutsche Literatur und Geschichte. In der JF schrieb er zuletzt über den Abschied vom Bürgertum (JF 02/03).


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