© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/03 21. Februar 2003

 
Lieber zum Jogging gehen
Was bitte ist das Wesentliche? - Der Irak-Konflikt von einer philosophischen Warte
Angelika Willig

Auf die Frage, was Intelligenz ist, hat die Hirnforschung eine wenig überraschende Antwort gefunden: Intelligenz ist Konzentration auf das Wesentliche, so steht es in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Nature Neuroscience, dem führenden Fachblatt zur Hirnforschung. Doch das hätte man sich auch selbst denken können.

Nur was bitte ist das Wesentliche? Der drohende Irak-Krieg zum Beispiel, auf den sich seit Wochen alles konzentriert, ist der wirklich so wichtig? Ein intelligenter Mensch wird sich das fragen dürfen. Auch wenn die gute Sitte gleich losschreit: Es geht doch um Menschenleben! Darum geht es gerade nicht. Denn ein Schlächter ist Saddam genauso wie Bush. Die Diskussion darüber, "wer angefangen hat" oder "wer schlimmer ist", stammt, mit Verlaub, aus dem Kindergarten. Egal ob es dabei um Irak geht, um Palästina oder um den deutschen Bombenkrieg, solche Fragen sind müßig. Die Geschichte urteilt nicht nach den Mitteln, die immer schmutzig sind, sondern nach den erreichten Zielen. Und erst wenn die Politik keine vernünftigen Ziele mehr hat, greift eine moralistische und masochistische Sichtweise um sich.

Erinnern wir uns an die Ho-Chi-Minh-Rufer. Ihnen ging es nicht primär darum, daß die Amerikaner grausam waren - der Vietcong war womöglich noch grausamer. Ihnen ging es um die historische Überlegenheit der kommunistischen Sache. Um das Glück der Menschheit, das all diesen Grausamkeiten einmal folgen sollte. Deshalb wirkten sie glaubwürdig. Heute sieht es ganz anders aus. Die Weltlage ist nicht mehr gespannt, sondern bloß noch deprimierend. Daran ändert auch das kurzfristige Gemeinschaftsgefühl auf den Demonstrationen am letzten Samstag nichts. Im Grunde weiß jeder, daß es für die neuen Konflikte keine Lösung gibt, und daß die Leiden der Unschuldigen mehr oder weniger gleich bleiben. Selbst unsere privilegierte Stellung, die das demonstrative Engagement erst möglich macht, löst sich auf. Drittweltländer produzieren unsere Oberhemden und bald auch den billigen Zahnersatz. Gut und Böse, Oben und Unten sind nicht mehr eindeutig bestimmbar. Die Entwicklung hat ihre feste Richtung verloren. Das hat der zu Unrecht verlachte Francis Fukuyama mit dem "Ende der Geschichte" gemeint. Weder ist die westliche Intervention richtig noch die "Freiheit der Völker", es gibt keine wesentliche Verbesserung mehr, sondern nur noch Scheinsiege.

Es klingt nach konservativer Kulturkritik, wenn man sagt, daß frühere Kriege anders, besser, "wichtiger" waren. Doch wer ernsthaft gegen die Amerikaner ist, müßte im konkreten Fall für die Gegner bzw. die Opfer der Amerikaner sein. Bei Vietnam galt die Solidarität dem "vietnamesischen Volk und den tapferen Vietcong". Sich für Saddam und sein Regime einzusetzen, fällt hingegen keinem der heutigen Friedensfreunde ein. Es geht nicht ohne die Erkenntnis, daß sich seit 1989 Wesentliches verändert hat. Und das ist nicht nur der Zusammenbruch des Ostblocks. Schon früher mußte es den letzten Kommunisten dämmern, daß die echten Bedürfnisse der Mehrheit beim Kapitalismus weitaus besser aufgehoben sind. Und seitdem man dies weiß, sind die USA und das von ihnen perfektionierte System ohne Alternative geblieben.

Welchen Schluß zieht der intelligente Mensch daraus? Es lohnt die Aufregung nicht. Nach diesem Krieg wird es den nächsten geben, und der Irak wird ebenso schnell vergessen sein, wie heute Afghanistan vergessen ist. Die Amerikaner siegen, aber es nützt niemandem etwas. Also schadet es auch nichts.

Die Summe des Leides in der Welt, so lehrt der Philosoph Arthur Schopenhauer, ist zu allen Zeiten gleich. Es wird nie besser, sondern nur anders. Die wechselnden Gestalten im Vordergrund weben im "Schleier der Maja", sie sind bloße Erscheinung und nicht wesenhaft. Daher ist es die eigentliche Aufgabe des Menschen, sich nicht mehr aufzuregen. Schopenhauer nennt das Kunststück "Willensverneinung".

Sicher ist der Pessimismus Schopenhauers keine angemessene Haltung zur menschlichen Geschichte insgesamt - wohl aber zur aktuellen Lage. Wir befinden uns in der Posthistoire, der Fortschritt ist fürs erste beendet, und die Beschäftigung mit Politik dient als "Infotainment" überwiegend zur Vertreibung der chronischen Langeweile. Die Irak-Geschichte erinnert mit jeder Folge mehr an eine Seifenoper, und das Fieber, das die Bevölkerung zu großen Teilen ergriffen hat, hat etwas vom Serienfieber. Da wird auch die edelste Haltung zur Grimasse korrumpiert. Nur noch scheinbar treffen Werte aufeinander, Saddam hat mit echtem Islam so wenig zu tun wie Bush mit echtem Christentum. Denn Gott ist längst tot. Und ohne Gott gibt es keine Geschichte, nur zusammenhanglose Ereignisse, von denen man sich bald nur noch erinnert, daß sie irgendwann mal im Fernsehen kamen - und daß es eine Menge Tote gab.

Durch politische Betroffenheit überdeckt man das, was einen wirklich beschäftigt und betrifft. Das hat Heidegger mit dem "Gerede" und der Herrschaft des "Man" gemeint. Nirgendwo wird das besser anschaulich als jetzt beim Irak-Thema. Der Informationsmüll, der aus allen Kanälen quillt, verstopft die Gehirne, eine Inspektion, noch eine Inspektion, eine Resolution, noch eine Resolution, und nützen tut es alles nichts. Jeder weiß, worum es geht, nämlich um nichts als Macht ohne jeden weiterführenden Willen. Doch endlos wird immer wieder dasselbe hin und her geredet. Und dabei verliert der einzelne wertvolle Lebenszeit.

Doch das Wesentliche - was ist es denn nun? Eigentlich weiß es jeder selbst, was ihn am gegenwärtigen Punkt seines Lebens weiterbringen würde - und drückt sich doch gerne davor. Dauerlauf machen, Fremdsprachen lernen, den Schreibtisch aufräumen, mehr Zeit mit Kindern verbringen, gesünder essen, morgens unter der Dusche singen und abends vielleicht sogar beten. Manchmal ist es eben doch von Vorteil, statt immer nur die Zeitung auch mal ein Buch zu lesen und möglichst eines, das mit dem, was so geredet wird, nichts zu tun hat. Schopenhauer, Heidegger oder die Perspektive von Diogenes in der Tonne. Er wurde zum "Cyniker" erklärt, weil er sich weigerte, wichtig zu finden, was seine Zeitgenossen für wichtig hielten. Statt dessen, fand er, sollte sich jeder um sich selber kümmern. Ein kluger Gedanke. Bequemer ist es allerdings und daher auch verbreiteter, sich mit anderen Drückebergern zusammenzusetzen und auf die Weltlage zu schimpfen.


 
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