© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    09/03 21. Februar 2003

 
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Richard-Wagner-Forschung
Konrad Pfinke

Vor genau 20 Jahren hat der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus in einem vielzitierten Beitrag von jener Wagner-Forschung gesprochen, von der noch kaum gesprochen werden könne, soweit es die ernsthafte, auf Quellen basierende Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Werk des Dichterkomponisten betreffe. Inzwischen hat die Richard-Wagner-Gesamtausgabe, auch die (noch lange nicht vollendete, aber sorgfältig projektierte) Wagner-Brief-Ausgabe viele wichtige Dokumente publik gemacht - aber noch immer bietet die Quellenforschung einige Überraschungen.

Zu den interessantesten Dokumenten gehören sicherlich die Notate, die Wagners Solo-Repetitor Heinrich Porges im Jahre 1882 anläßlich der Proben im Klavierauszug zum "Parsifal" fixierte. Nun erfährt man, daß die Herausgeber des betreffenden Bandes der Richard-Wagner-Gesamtausgabe den Text nur nach einer problematischen Abschrift abdruckten, obwohl am selben Ort, in der Richard-Wagner-Gedenkstätte Bayreuth, auch das freilich schwerer lesbare Original liegt. Rüdiger Pohl, der Vorsitzende der Deutschen Richard-Wagner-Gesellschaft, hat nun die authentischen Bemerkungen Richard Wagners dechiffriert, gereinigt von den späteren Ergänzungen und Fehlinterpretationen, so daß diese erstrangige Quelle zum Regisseur und "Parsifal"-Komponisten erstmals in einer preiswerten Edition vorliegt.

Nicht, daß die "Parsifal"-Geschichte dadurch umgeschrieben werden müßte, aber es ist doch faszinierend, dem Meister dabei zuzuschauen, wie er "jetzt durch eine bedeutsame Bewegung, jetzt durch eine den Kern der Situation enthüllende Auseinandersetzung, dann wieder durch eine bis ins kleinste musikalische Detail einzugehende Angabe der richtigen Art der Ausführung oder gar durch seine jedesmal im Innern des Zuhörenden einen Sturm der Erregung hervorrufende ergreifende Recitation die entscheidend wichtigsten Stellen vornimmt", wie Heinrich Porges in einem Artikel schrieb, der in einem Erstdruck der Publikation beigegeben wurde.

Was man aus diesem Panegyrikus nicht über die Details der Probenarbeiten erfährt, macht die Edition der Notate um so deutlicher: daß es Wagner, wie immer, um "Deutlichkeit" ging. Einige Nuancen betreffen die Artikulation, andere den Charakter einer Szene, einer Geste, manche Bemerkung läßt Rückschlüsse auf die Deutung einer Figur zu. Daß Kundry gelegentlich der Prototyp einer pathologischen Hysterikerin ist, also ein femininer Grundtypus der zeitgenössischen Psychologie, diese Beobachtung läßt sich auch mit Hilfe der Regieanweisungen belegen: "Das ist der Krampf, an dem sie leidet."

Wenn der Herausgeber im Vorwort betont, daß alle in den Druckausgaben vorhandenen Ausgaben zu Personenführung und Bildgestaltung bei heutigen Aufführungen "selbstverständlich" respektiert werden müßten, unterliegt er freilich einem Irrtum, der nicht einmal von Wagner geteilt worden wäre, denn der hatte ja bekanntlich selbst - sein "Balletmeister" Richard Fricke hat es im "Ring"-Proben-Tagebuch der Nachwelt getreulich überliefert - jeden Tag das wieder umgeschmissen, was man am vorigen Tag szenisch fixiert glaubte.

"Das Orchester muß wie die unsichtbare Seele sein." Richard Wagners Bemerkungen zum "Parsifal" . Hrsg. von Rüdiger Pohl. Deutsche Richard-Wagner-Gesellschaft, 2002. 10 Euro)


 
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