© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/03 28. Februar 2003

 
Kolumne
Folter-Debatte
Heinrich Lummer

Folter in Deutschland! Auch das noch. Die Gemüter sind erhitzt. Die Meinungen gehen auseinander. Das ist auch ganz natürlich bei einem derartigen Thema. Und dieses Thema wird man nie ganz los werden, weil es in der Natur der Sache liegt. Es geht nämlich um das Recht im allgemeinen und die Gerechtigkeit im Einzelfall. Es geht um die Regel und um die Ausnahme.

Besoffen darf der Mensch nicht mit dem Auto fahren. Und das ist gut so. Wenn aber einer in akuter Not ist und ins Krankenhaus muß und eine Alternative nicht existiert, dann wird der Betrunkene den notleidenden Menschen ins Krankenhaus fahren. Und auch das ist gut so. Gesetze sollen den Regelfall allgemeingültig regeln. Aber die besten Gesetze können nicht jeden Einzelfall einfangen. Deshalb braucht man Regelungen für den Ausnahmefall. Das sind in der Regel Generalklauseln oder Gummiparagraphen. Beim übergesetzlichen Notstand haben wir es mit einer solchen Regelung zu tun. Sie soll die Möglichkeit schaffen, etwa im Falle einer Situation, da zwei Rechtsgüter konkurrieren, eine Güterabwägung zu ermöglichen. Es gibt im Leben immer einmal Situationen, da kann man nur zwischen zwei Übeln wählen. Und das kleinere ist nicht immer leicht zu erkennen. Wenn ein Kind verschwunden ist und man den Entführer hat, der aber nicht redet, was soll da der Polizist tun? In einer solchen Lage ist es nur zu verständlich, den schweigenden Entführer anzubrüllen, ihn zu ängstigen, meinetwegen auch Gewalt anzudrohen. Es geht schließlich um ein Menschenleben. Und wenn er redet, kann dies Rettung bedeuten. Also: Das Folterverbot ist richtig. Die Rechtslage muß nicht geändert werden. Wenn aber ein Polizist in eine Lage kommt, da er zwischen zwei Rechtsgütern zu entscheiden hat, da muß er ein Ermessen haben. Da zählt nicht das allgemeine Verbot, sondern die Einzelfallgerechtigkeit. Wenn die Not groß ist, wird es hoffentlich immer mutige Männer geben, die das Nötige tun. Und dann finden sie hoffentlich gute Richter. Die müssen nicht gnädig sein, sondern gerecht den Einzelfall unter dem Gesichtspunkt des übergesetzlichen Notstandes bewerten.

Man stelle sich vor, der entführte Junge hätte noch gelebt und die Zeit des Schweigens des Täters hätte zum Tode geführt. Auch die Androhung von Gewalt ist zu Recht verboten. Aber in diesem Einzelfall war sie nützlich. Und solche Fälle werden immer wieder vorkommen, weil das Leben komplizierter ist, als es die Gesetze beschreiben können. Der Buchstabe tötet bekanntlich und der Geist macht lebendig.

 

Heinrich Lummer, Berliner Innensenator a. D., war bis 1998 Bundestagsabgeordneter der CDU.


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen