© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    10/03 28. Februar 2003

 
Die konditionierte Gesellschaft
Unsere tägliche Denunziation gib uns heute - oder: Am Pranger der Gesinnungskontrolleure / Vorabdruck aus dem Buch "Stigmatisiert"
Klaus J. Groth

Die schädlichsten Debatten sind die unterdrückten, nicht geführten. Die schändlichsten Debatten stigmatisieren Andersdenkende. Die deutsche Gegenwart hat von beiden übergenug, von den unterdrückten und von den bis zum Rufmord ausartenden Debatten. Das Meinungsklima in diesem Land erstarrt in einem verordneten Schweigegebot, das die Vergangenheit zum allgegenwärtigen und alleine gültigen Maßstab erklärt, in dem der Blick zurück blind macht für die Probleme von Heute und Morgen. Der politisch korrekt rückwärts gerichtete Blick erkennt nur die Opfer der Vergangenheit und nimmt die Opfer der Gegenwart als kollaterale Schäden hin. Jeder Versuch, dieses erstarrte Meinungsklima aufzubrechen, das Unaussprechliche aus dem Tabu zu lösen, wird erbarmungslos verfolgt und bestraft, mit neuerlichem Tabu belegt. (...)

Was zur Debatte steht, bestimmen nicht die Themen, sondern seit Jahrzehnten die Ideologen der 68er, die ihre Meinungsführerschaft bedingungslos durch Tabuisierung nicht genehmer Themen und die Stigmatisierung Andersdenkender absichern. Sie bestimmen, worüber nachgedacht und gestritten werden darf, sie unterdrücken Themen und geben Themen frei. Erst ein von ihnen sanktioniertes Thema ist ein gutes Thema. (...)

Das ist eines der gegenwärtigen Probleme: Alle zulässigen Fragen scheinen schon beantwortet, allenfalls können sie im Rahmen des Schicklichen gedreht und gewendet werden, vorausgesetzt, das Ergebnis ändert sich bei allen gedanklichen Pirouetten nicht. Die unbeantworteten Fragen aber sind mehrheitlich ganz und gar nicht zulässig oder aber in die Zukunft gerichtet, was ohne gleichzeitige Reflexion der Vergangenheit wiederum nicht zulässig ist.

Darum werden bestimmte Debatten vermieden, obgleich durchaus konträre Ansichten bestehen. Dabei zeigt sich erst in der Auseinandersetzung der Wert eines Arguments, erweist sich erst in der freien Aussprache, ob eine Ansicht Bestand haben kann oder ob sie besser nicht mehr angeführt werden sollte. Verschwiegene oder unterdrückte Argumente haben die fatale Eigenart, denjenigen, die sie sich zu eigen machen, immer als wahr zu gelten, auch wenn sie vollkommen unsinnig sein sollten, denn verschwiegene Argumente müssen sich nicht beweisen.

Aufgezwungene Debatten bestimmen die Gegenwart

So schlüssig diese Feststellung klingen mag, so fern ist sie der deutschen Realität. Die deutsche Gegenwart ist gleichermaßen geprägt von unterlassenen und von aufoktroyierten Debatten. Die Wurzeln für die unerwünschten und die aufgezwungenen Debatten sind die gleichen. Wie und was und wo und wann zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung werden kann oder soll, bestimmt ein längst in den Köpfen aller festsitzender Debattenkanon.

Dieser Debattenkanon sortiert nicht nur Themen und Argumente, nach ihm wird auch entschieden, wer dazugehört und wer auszugrenzen ist. Dabei muß einer noch nicht einmal etwas nach dem politisch korrekten Kanon Falsches denken oder sagen, es reicht aus, wenn er etwas an sich Richtiges falsch ausdrückt, so wie das 1988 bei der Rede des Bundestagspräsidenten Philipp Jenninger zum 50. Jahrestag der "Reichskristallnacht" der Fall war, als Jenninger die Betonungen falsch setzte und Zitate nicht als Zitate erkennbar waren. Oder wenn jemand etwas Unangepaßtes allzu direkt formuliert wie Steffen Heitmann, der heute feststellt: "Hätte ich das unendlich ideologisierte Meinungsklima in Westdeutschland besser gekannt, hätte ich meine Haltung anders formuliert, jedoch ohne sie inhaltlich zu ändern."

Hat einer weder etwas Falsches gesagt noch etwas falsch ausgedrückt, genügt die Unterstellung, er habe gegen den Tugendkanon verstoßen, um ihn aus der Bahn zu kippen, wie das bei dem Schulleiter Heiner Hofsommer in Hünfeld der Fall war, über den ein Kapitel dieses Buches berichtet.

Die unglaublichsten Unterstellungen finden ihre willigen Abnehmer, wenn sie nur mit den passenden Schablonen aus dem Baukasten der politisch korrekten Heilsbringer zusammengestückelt wurden: Die Besucher eines Schwimmbades sahen zu, wie drei Jugendliche ein Kind ertränkten, und niemand half. Unglaublich? Nein, es paßte! Haargenau sogar. Das Kind hatte eine dunkle Hautfarbe! Die Täter, Neonazis, was sonst? Es passierte in Sebnitz, und Sebnitz liegt im Osten Deutschlands! Dort tragen alle männlichen Jugendlichen Glatze und Springerstiefel! Noch Fragen?

All die Versatzstücke des aufoktroyierten Stimmungsbildes bündelten sich in dem Schrecken von Sebnitz: der permanent unterstellte Fremdenhaß, die ewig und immer unbewältigte Vergangenheit, die nie und nimmer ausreichende Einsicht in begangenes Unrecht.

Hinterher, als sich herausstellte, daß in Sebnitz nichts so gewesen ist, wie es dargestellt worden war, da fragten diejenigen, die sich am bedenkenlosesten dieser Versatzstücke der Anklage bedient hatten, wie es so weit hatte kommen können. Doch die lautesten Fragen sind nicht unbedingt die intensivsten. Denn intensives Fragen hätte zur Antwort haben müssen: Sebnitz war ein vorläufiger dramatischer Höhepunkt eines langen Weges, an dessen Gestaltung sich die Mehrheit der öffentlich Fragenden beteiligte und weiterhin beteiligt ist. Sebnitz war nicht das läuternde Ende eines verhängnisvollen Weges, sondern eine schreckliche Zwischenstation.

Der sechsjährige Joseph Kantelberg-Abdulla, der im Freibad von Sebnitz starb, hatte einen dunklen Teint. Damit war das Motiv seines unterstellten gewaltsamen Todes vorgegeben und ohne eine einzige Frage vorstellbar: Joseph war ein Opfer des latenten Fremdenhasses der Deutschen geworden. Fragen stellten sich nicht, sie wären nicht angebracht gewesen. Schließlich gilt deutscher Fremdenhaß als unumstößliches Faktum.

Das ist eine dieser Behauptungen, die sich durch permanente Wiederholung selbst belegen. Zahlreiche Fälle brutaler Übergriffe auf Ausländer scheinen sie zu stützen. Doch darf von Einzelfällen auf das allgemeine Verhalten geschlossen werden? Allgemein ist das friedliche, tolerante Zusammenleben deutscher Staatsbürger mit Menschen anderer Herkunft. Doch die Behauptung des durchgängigen Fremdenhasses bedarf keines Nachweises. Sie wird schon so lange und fortdauernd erhoben, daß sie aus sich heraus als schlüssig gilt.

Wer das Meinungsklima grundlegend beeinflussen will, bedient sich der Behauptung, der Wiederholung und der Übertragung. Der französische Arzt und Soziologe Gustave le Bon beschreibt deren wirksamen Dreiklang in seinem viel beachteten Buch "Psychologie der Massen". Nun ist dieses Buch geraume Zeit bevor die 68er ihren Marsch durch die Institutionen antraten erschienen, erregte aber gerade damals in Deutschland erhebliche Aufmerksamkeit. Le Bons Werk kann geradezu als Standardwerk zur Beeinflussung des Meinungsklimas gelten.

"Die reine, einfache Behauptung ohne Begründung und ohne Beweis", schreibt er, " ist ein sicheres Mittel, um der Massenseele eine Idee einzuflößen. Je bestimmter eine Behauptung, je freier sie von Beweisen und Belegen ist, desto mehr Ehrfurcht erweckt sie. (...) Die Behauptung hat aber nur dann wirklichen Einfluß, wenn sie ständig wiederholt wird, und zwar möglichst mit denselben Ausdrücken. Napoleon sagte, es gäbe nur eine einzige ernsthafte Redefigur - die Wiederholung. Das Wiederholte befestigt sich so sehr in den Köpfen, daß es schließlich als eine bewiesene Wahrheit angenommen wird."

Solcherart entstehen kollektive Sichtweisen, die zu hinterfragen nicht mehr angebracht scheint. Fest etablierte Sichtweisen entwickeln sich zu einer Macht, die unerschütterlich wirkt. Die Belegung bestimmter Begriffe mit negativen Attributen und deren penetrante Wiederholung festigen ein Meinungs- und Stimmungsbild, in dem die bloße Nennung des Begriffs oder eine abweichende Beobachtung ausreichen, die Wächter des Tugendkanons und deren Anhang aufzuschrecken.

Etablierte Sichtweisen entwickeln sich zur Macht

Die anhaltende Wirkung solcher "Propaganda - oder ... erzieherischen Anstrengungen", wie notwendig sie auch aktuell gewesen sind, erklärt sich aus dem Drang zur Nachahmung. Er ist nun einmal eine der stärksten Triebfedern. Ideen und Meinungen unterliegen diesem Drang im gleichen Maße wie Moden. Sie werden von wenigen vorgegeben und von vielen übernommen, vorausgesetzt, sie liegen nicht allzu weit entfernt vom Gängigen. Paßt etwas halbwegs in das gängige Schema, werden Beweise und Begründungen unerheblich, sie spielen keine Rolle mehr. Nach le Bon verbreiten sich Überzeugung und Glaube "nur durch den Vorgang der Übertragung, niemals mit Hilfe von Vernunftgründen". Darum wird auch jeder, der mit Argumenten gegen das gängige Meinungsklima halten will, wenig bis gar keinen Erfolg haben. Jeder, der es versuchte, hat diese Erfahrung machen müssen, zum Teil schmerzhaft, zum Teil um den Preis der Stigmatisierung. Daß dennoch immer wieder versucht werden sollte, das aufgepfropfte, erstarrte Meinungsbild wieder in bewegende Debatten zu bringen, steht auf einem anderen Blatt. Wer sich aus geistigen Fesseln lösen will, muß zuerst einmal erkennen, wie sie geschlungen und verknotet sind.

Und er muß sich aus der Verstrickung der eifrigen Nachplapperer und der Angepaßten lösen. Meinungsführer können noch so viel behaupten und wiederholen, ohne vielfältiges Echo der Nachplapperer würden sie wenig erreichen. Erst das Geflecht von Meinungsführern, Nachplapperern und Angepaßten bestimmt das Klima von Meinungen und Stimmungen. Dabei wird sich niemand in der Rolle des Nachplapperers oder des Angepaßten sehen. Jeder ist überzeugt, seine eigene, aus eigenständigen Gedanken oder Erfahrungen abgeleitete Sicht zu vertreten. In der Naturwissenschaft, die sich eigentlich wenig für die Deutung von Meinungen und Stimmungen eignet, gibt es zahlreiche Beispiele kollektiver Täuschungen, bei denen einer etwas gesehen zu haben meinte, und nach einer Weile auch alle anderen überzeugt waren, es so und nicht anders gesehen zu haben. Um wieviel mehr ist dies möglich außerhalb der strengen, auf Nachweisbarkeit begründeten Arbeit der Naturwissenschaftler.

Die Unterscheidung zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung ist nicht naturgegeben. Sie ist auch nicht zwangsläufig. Sie wurde erst allmählich bewußt, als erkannt werden mußte, daß zwischen dem, was allgemein gedacht und dem, was gemeinhin veröffentlicht wird, eine immer größer werdende Kluft entstanden war. Mehr noch: Zwischen dem, was jemand sagt und dem, was der gleiche Jemand öffentlich sagt, muß noch nicht einmal Übereinstimmung bestehen. Wie weit ist es eigentlich gekommen, wenn das Sprichwort "Reden ist Silber, Schweigen ist Gold" wieder aktuelle Bedeutung bekommt?

Der Abstand zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung ist größer geworden. Für die veröffentlichte Meinung sind nahezu ausschließlich die Medien zuständig. Nur was sie transportieren, wird zum Gegenstand der veröffentlichten Meinung. Themen, die nicht von diesem Informationsmonopol aufgegriffen werden, existieren nicht. Dagegen wird ein Thema um so wichtiger, je häufiger es behandelt wird. Das muß nicht unbedingt in Beziehung zu seiner tatsächlichen Wichtigkeit stehen. Auch hier gilt: Wiederholen um zu beherrschen. Unwichtiges ist eine Meldung, Wichtiges bekommt die Schlagzeile. Das macht Sinn, dagegen ist nichts einzuwenden, Bewertung gehört zum journalistischen Auftrag. Allerdings ist zu fragen, wer was wie bewertet. (...)

Nicht immer jedoch entwickelt eine Geschichte eine Eigendynamik, wie im Fall Sebnitz festzustellen war. Dann muß ein Skandal förmlich angeschoben werden, ehe er seine Wucht voll entfalten kann. Mitarbeiter der beteiligten Medien spielen sich dann die Informationen gegenseitig zu, treffen Absprachen, wann was publiziert werden soll. Ist ein Skandal auf diese Weise erst einmal in die Welt gesetzt, kommt die Stunde der Chronisten. Sie tragen zum Fortgang der Geschichte zwar nichts bei, verleihen ihr aber durch die unkritische Übernahme von Behauptungen und deren weitere Verbreitung erst das notwendige Gewicht und jene Glaubwürdigkeit, die keinen Zweifel mehr zuläßt.

Ist der Skandal erst einmal in die Welt gesetzt, steigert sich die Berichterstattung der Medien durch gegenseitiges Zitieren. Wer sich selbst noch nicht weiter vor wagt, wartet ein passendes Zitat in einem anderen Medium ab, greift es zitierend auf und verschärft damit den Angriff weiter. Gelegentlich wird dies probate Verfahren auch angewandt, um den Skandal erstmals zu publizieren: Ein Rechercheur liefert sein brisantes Material an ein Medium, für das er gewöhnlich nicht arbeitet, das aber dafür bekannt ist, unbedenklicher vorzupreschen, und holt dann den eigenen Stoff gewissermaßen als Zitat für das eigene Medium zurück. So entstehen und entwickeln sich durch gegenseitiges Beobachten und Abschreiben Kampagnen, die aus sich selbst heraus leben und nach deren Wahrheitsgehalt schließlich niemand mehr fragt. Mutmaßungen und Verdächtigungen werden so lange hin und her geschoben, bis sie ihren vorgeblichen Wahrheitsgehalt aus sich selbst entwickeln. Etwas wird schon dran sein, meint der Medienkonsument schließlich, bekanntlich sei, wo Rauch ist, ist auch Feuer. Er ist um so rascher bereit, die Wahrscheinlichkeit einer Nachricht zu akzeptieren, je besser sie in ein vorherrschendes Stimmungsbild paßt. Schließlich wurde die "Behauptung oft genug und einstimmig wiederholt" (le Bon), um Bestandteil eines fest etablierten Meinungsbildes zu sein. (...)

Die Diffamierung von links hat überlieferte Methode. Stalinisten und Antifaschisten haben hinreichend Übung darin. Solche Methoden bekämpft man, indem man sie aufdeckt. Vorausgesetzt, das ist möglich. Und das ist nicht mehr der Fall. Weil nicht mehr gesagt werden darf, was gesagt werden sollte. Martin Walser beklagte dies, als er bei seinen Überlegungen über Gewissen und Öffentlichkeit zu dem niederdrückenden Ergebnis kam: "Es ist immer die Nichtübereinstimmung mit etwas Herrschendem, was dich zwingt, aus deinem Gesamtbestand das Mögliche auszuwählen. Jeder Teilnehmer am jeweiligen Diskurs lernt ganz von selbst, was gerade und wie es gesagt werden darf. Der Diskurs ist der andauernde TÜV, der das Zugelassene etikettiert und den Rest tabuisiert. (... ) Ich hätte in jedem Jahr Gründe finden können, warum ich mich nicht der freien Rede anvertrauen kann, obwohl ich nichts lieber möchte als das. Zur Zeit also ist es der Tugendterror der Political Correctness, der freie Rede zum halsbrecherischen Risiko macht."

Die freie Meinungsäußerung als "halsbrecherisches Risiko"? Von Diktaturen ist ein solches Risiko bekannt, totalitäre Staaten können mit der freien Meinungsäußerung nicht bestehen. Aber die Bundesrepublik Deutschland, in der Verfassungsrichter im Zweifelsfall für die freie Meinungsäußerung entscheiden?

Selbstzensur ist jedoch selten ein Fall für Verfassungsrichter. Wer sich nicht der freiwilligen Selbstkontrolle unterzieht, macht sich verdächtig, geht ein "halsbrecherisches Risiko" ein. Kritische Bemerkungen werden tunlichst mit der Versicherung eingeleitet, man habe wirklich nichts gegen ausländische Mitbürger, man wolle nun wirklich gar nichts von den Geschehnissen in Nazi-Deutschland verharmlosen, Law and Order sei nun bestimmt das Letzte, wonach man verlange, jedoch...

Die Bundesrepublik Deutschland sei drauf und dran, sich allmählich in eine "DDR-Iight" zu verändern, zürnte der erboste Arnulf Baring. Auch in der DDR versicherte man tunlichst, man wolle nichts als den Sozialismus stärken, ehe man eine kritische Äußerung machte. Fiel die Vorbemerkung nicht überzeugend genug aus oder wurde sie gar vergessen, war die Stasi nicht mehr weit und dann ging es ab nach Bautzen. Im vereinten Deutschland droht kein Zuchthaus mehr für eine ungebührliche Bemerkung. Statt dessen droht der Bruch der Karriere, die gesellschaftliche Ächtung, die öffentliche Vorführung. Wer derart isoliert werde, falle "tot aus der Gesellschaft", formulierte die Demoskopin Elisabeth Noelle-Neumann so drastisch wie zutreffend.

Opfer von Denunziation und Ächtung wird jedoch nicht nur, wer sich im Widerspruch zum Zeitgeist äußert oder seiner kritischen Bemerkung nicht in ausreichendem Maße die vorgestanzten korrekten Vorbemerkungen vorausschickte, es reicht aus, eine an sich harmlose oder dem herrschenden Meinungsbild durchaus konforme Ansicht an der falschen Stelle geäußert zu haben. (...)

Wer nicht mit den Wölfen heult, wird bestraft

Ob die große Hatz einer Stigmatisierung oder Skandalierung letztendlich zu jenem Ergebnis führt, das die Jäger sich zum Ziel setzten, hängt von mehreren Faktoren ab, die mit den eigentlichen Vorwürfen wenig bis gar nichts zu tun haben. Entscheidend ist vielmehr:

- Die Intensität der Gegenwehr. Wer von vornherein mögliche eigene Fehler oder Versäumnisse nicht ausschließt, auch nur die kleinste Möglichkeit eigenen Fehlverhaltens einräumt, hat schon verloren.

- Wer eines Fehlverhaltens beschuldigt wird. Nicht in jedem Skandal ist ein Opfer erwünscht. Beispielsweise dann nicht, wenn Jäger und Gejagter in der Vergangenheit gemeinsame Interessen verfolgten. Manfred Stolpe fand namhafte publizistische Verteidiger, weil "Die Anhänger der Ost- und Deutschlandpolitik der Jahre seit 1969 ( ... ) kein großes Interesse daran (hatten), einen ihrer wichtigsten Gesprächspartner über die Tischkante fallen zu lassen und damit im Grunde sich selbst bloßzustellen." (Robert Leicht von der Zeit, zitiert nach Kepplinger).

- Die Sympathie, die dem Beschuldigten entgegengebracht wird. Bei einer Untersuchung gaben zwei Drittel der befragten Journalisten an, sie würden einen Erstverdacht umgehend publizieren, nachdem er im Zusammenhang mit einer Person mit geringem Sympathiewert genannt worden war. Wurde der gleiche Tatbestand jedoch mit einer Person mit hohem Sympathiewert in Verbindung gebracht, gab mehr als die Hälfte der Journalisten an, sie "wollten warten, um gründlich recherchieren zu können."

- Die Position unter den eigenen Parteifreunden. Wer intern ohnehin einen schlechten Stand hat, darf wenig Unterstützung erwarten. War die parteiinteme Kritik nicht stark ausgeprägt, so ermittelte Kepplinger, behielten nahezu zwei Drittel (63 Prozent) der Angegriffenen ihr Amt, wurde das Verhalten jedoch auch intern stark kritisiert, kam gerade noch ein Fünftel (22 Prozent) über die Runden. Alles erlaubt?! (...)

Wer ins Visier gerät, wird einsam. Denn Sympathisanten und Freunde machen immer die gleiche Erfahrung: Wer nicht mit den Wölfen heult, wird ebenfalls ausgesondert und bestraft. Ab einem gewissen Punkt einer Debatte oder eines Skandals ist es schädlich, nach der Wahrheit zu fragen, Argumente anzuführen, die nicht in das Schema der Verfolgung passen. Es nutzt ohnehin nicht mehr, Argumente in die Debatte einzuführen, denn sie werden nicht sachlich nach richtig oder falsch sortiert, sondern emotional nach politisch korrekt oder politisch unkorrekt, nach gut oder böse. (...)

Bild: Wolfgang Mattheuer, "Erschrecken": Das Meinungsklima in Deutschland ist erstarrt

 

Bei dem Text handelt es sich um einen mit freundlicher Genehmigung gedruckten Auszug aus dem demnächst erscheinenden Buch "Stigmatisiert. Der Terror der Gutmenschen", hrsg. von Klaus J. Groth und Joachim Schäfer, Aton Verlag, Unna.


 
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